Biografie von Irena Veisaite

Bloß nicht auffallen als Jüdin in der Kirche

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Die litauische Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Irena Veisaite spricht in Weimar die Dankesworte nach der Verleihung der Goethe-Medaille 2012.
Irena Veisaite hat 2012 in Weimar die Goethe-Medaille erhalten. © picture-alliance/dpa-Zentralbild/Martin Schutt
Von Blanka Weber · 25.10.2019
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In Litauen ist nur eine von 1000 Personen jüdisch. Irena Veisaite erinnert sich jedoch noch an Zeiten als das in der litauischen Hauptstadt Vilnius anders war. Sie hat nun ein Buch über ihr Leben geschrieben und eckt damit in ihrem Heimatland an.
"Für mich ist Jude sein nicht eine religiöse Frage. Es ist eine Frage: Ich werde Jüdin bleiben, bis ein Antisemit in der Welt noch existiert." Irena Veisaite ist 1928 in der Mitte Litauens, in Kaunas, geboren worden.
"Natürlich, natürlich. Jeder erinnert sich an seine Kinderjahre, nicht wahr?" An das schöne Zuhause, die erste Puppe und auch an die Gerüche: "Ich erinnere mich an alles da. Ich habe darüber gesprochen."
In ihrem Buch "Ein Jahrhundertleben in Litauen" erzählt sie von den Eltern, vom Haus, das zum schönsten in Kaunas gewählt und später vom Gestapo-Chef bewohnt worden war und von der Bibliothek des Vaters mit Büchern von Molière, Shakespeare, Flaubert, Goethe und Thomas Mann. Jahrzehnte später wird sie das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida leiten. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg:
"Man hat mich oft gefragt, warum ich Germanistik studiert habe. Ich habe immer geantwortet, dass die deutsche Kultur nichts Gemeinsames hat mit der Nazizeit. Die Nazis waren gegen die deutsche Kultur, gegen Schiller, Goethe, Lessing. 'Nathan der Weise' war sogar verboten. Brecht und Thomas Mann und so weiter."

Juden durften nur auf gelben Bänken sitzen

Die Bücher aus ihrer Kindheit waren prägend. Über Heinrich Heines späte Gedichte hat sie promoviert. Der deutsche Dichter jüdischer Herkunft habe sie schon immer fasziniert: "Aber man hat ihn nicht immer anerkannt. Seine 'Loreley' war sogar verboten. Aber man hat sie gesungen, aber von unbekanntem Dichter war das in der Nazizeit. Wir haben Zuhause Russisch und Litauisch gesprochen und dann bin ich, als ich fünf Jahre alt war, ich hatte etwas mit den Lungen zu tun, mit den Bronchien, ich habe ein Jahr in der Schweiz gelebt, in Arosa, und habe alles vergessen. Nur Deutsch gesprochen."
Die Sprache ist seitdem geblieben und die deutsche Kultur, sagt sie, sei ihr sehr nah. Schon der Vater hatte einst in Hamburg eine Schule besucht. Ihre Großeltern waren religiös, an all das erinnert sich Irena Veisaite, auch an den Besuch in Berlin mit dem Vater, als er ihr erklärte, Juden müssten sich auf extra, auf gelbe Bänke setzen. Das war 1939 und beide ahnten - zurück in Litauen - noch nichts von dem, was Juden im Baltikum widerfahren würde.
"Vilnius hat eine reiche jüdische Kultur. Es war eigentlich eine Stadt, in der ein Drittel oder mehr der Einwohner jüdisch war und Jiddisch gesprochen hat."

Alle sind in Paneriai

1940 wurde das Land in die UdSSR eingegliedert und damit zur Sowjetrepublik. Ein Jahr später überfielen die Nationalsozialisten das Land und die Deutsche Wehrmacht übernahm das Kommando. Von den 240.000 Juden in Litauen, wenn man das Gebiet um Wilna dazu zählt, haben die meisten nicht überlebt. "Sie sind alle tot. Sie sind alle in Paneriai."
Der Ort nahe Wilna wurde zum Symbol für Massenexekutionen. Auch Irena Veisaites Mutter wird bei einem Massaker erschossen. Darüber reden kann sie bis heute nicht. Die 13-jährige Irena überlebte das Ghetto in Kaunas, weil Freunde ihrer Eltern dafür sorgten, dass sie falsche Papiere bekam und fliehen konnte. Es fand sich eine erste Bleibe, die dann aber auch zu gefährlich wurde.

Mit der zweiten Mutter christlich werden

Eine neue Familie mit sechs Kindern war bereit, Irena als siebtes Kind - eine angebliche Waise vom Land - aufzunehmen. Und sie erinnert sich sehr gut an den ersten Abend bei ihrer neuen Mutter Stefania - die allen Kindern abends einen Gute-Nacht-Kuss gab.
"Es ist ihnen wahrscheinlich unangenehm, eine Jüdin zu küssen, es ist ihnen - wie sagt man - eklig? Und da hat sie auch angefangen zu weinen."
Bis 4 Uhr früh hätten sie miteinander gesprochen und jene Stefania - eine Christin - wurde ihre zweite Mutter. Eine mutige Frau, die ihr eigenes Leben und das ihrer Familie riskierte, als sie das neue Mädchen aufnahm. Irena durfte keinesfalls auffallen.
"Ich musste mich benehmen so wie alle - so musste ich jeden Sonntag auch in die Kirche gehen. Man sagt ja immer, dass Jesus Christus mehr die Leidenden liebt als die Glücklichen. Sie können sich vorstellen wie sich eine Jüdin fühlt während der Nazizeit in Litauen? Da habe ich gedacht, ich weiß, dass mich Jesus mehr liebt als die, die reich und so sicher sind in ihrem Leben und alles haben und frei sind und so weiter."

Antisemitismus hat tiefe Wurzeln

Heute blickt sie auf ein bewegtes Leben zurück und erzählt davon in ihrem Buch. Sie lebt in Vilnius und gehört noch immer zu den führenden Intellektuellen des Landes, zu den kritischen aber auch versöhnenden Stimmen.
"Es ist eine sehr heikle Frage. Und natürlich der Antisemitismus hat so tiefe Wurzeln."
Und gerade im Augenblick sei es wieder eine aktuelle und heiße Frage, wenn Litauen die Rolle mancher Partisanen im Holocaust diskutiert. Im "Jahrhundertleben" berichtet Irena Veisaite auch davon, dass ihre zweite Mutter Stefania nach 1945 in den Gulag geschickt worden war. Ein Leben mit Tragik und Freude, zwischen Juden- und Christentum:
"Und ich werde immer eine Jüdin bleiben. Aber ich bin getauft und ich denke, dass das Christentum auch von den Juden verbreitet wurde. Alle, Jesus und auch die Apostel - die waren ja Juden."

Irena Veisaite: "Ein Jahrhundertleben in Litauen"
Wallstein 2019
400 Seiten, 24 Euro

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