Casanova der Ansichten

29.08.2010
Er war Utopist, Frauenheld, Renegat, Erfolgsautor und früher Kritiker des Stalinismus: Arthur Koestler, einer der schillerndsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, wird von Michael Scammell in einer ausgezeichneten Biografie gewürdigt.
Im Frühjahr 1940 schickt Arthur Koestler ein in großer Eile fertig gestelltes Manuskript an seinen Verlag in London. Koestler ist 35 Jahre alt, die französische Polizei jagt ihn, der Roman heißt "Sonnenfinsternis”. Arthur Koestler hat damit ein Lebenswerk vollbracht: Früher und schonungsloser als kaum ein anderer entlarvt er darin den stalinistischen Totalitarismus. Wer sich nach dem brillanten Roman noch für den Kommunismus begeisterte, und davon gab es nicht wenige, tat es ohne Ausrede: Mit seiner fiktiven Behandlung der Moskauer Prozesse hat Koestler dem 20. Jahrhundert die Augen geöffnet.

Sieben Jahre lang war Koestler selbst Mitglied der kommunistischen Partei gewesen. Er hatte der Sowjetunion die Treue gehalten und war in Francos Gefängnis nur knapp dem Tod entkommen. Nun war er Ex-Kommunist, ein Renegat. Und in London, wohin er nach der Internierung im südfranzösischen Le Vernet fliehen kann, war er gleich doppelt entwurzelt: Seine politische Heimat hatte er aufgegeben, seine neue englische war ihm fremd. Doch "Darkness at Noon", so der englische Originaltitel, war der Wendepunkt in Koestlers Leben. Der Roman machte ihn berühmt und finanziell unabhängig. Die Veröffentlichung war, wie der Amerikaner Michael Scammell in seiner ausgezeichneten Biographie schreibt, ein Zenit:

Vielleicht wäre es besser für Koestler gewesen, wenn er in seinen Vierzigern gestorben wäre wie seine Freunde Orwell und ... Camus und ihm die Aura eines Märtyrers zugekommen wäre, statt seine Karriere mit Spekulationen über Astronomie, Evolution, Parapsychologie und jüdischen Rassentheorien zu beflecken.

Doch die Abwendung von der kommunistischen Partei war in Wahrheit nur einer von vielen Brüchen in Koestlers Leben. Das verhätschelte und vernachlässigte Einzelkind jüdischer Eltern aus Budapest, das als englischer Snob mit einem Whiskeyglas in der Hand starb, war sein Leben lang ein Bindungsloser. Gierig warf er sich mit Leib und Seele in die Wellen, die ihm das 20. Jahrhundert vor die Füße spülte, in jede, als wäre es die letzte. Koestler war ein Casanova der Ansichten, sein Leben war eine Suche, die an jedem Ziel neu begann. Und immer war er auch ein Casanova, der wie ein Ertrinkender nach den Frauen griff.

"Jeder neuen Eroberung wohnte das Versprechen nach Glück inne, doch das Glücksgefühl währte niemals lang”, schreibt Scammell über den manisch promiskuösen Koestler.

Koestler war kein Skeptiker, wie ihn sein Biograph nennt, sondern ein Utopist. Koestler, der viel trank und früh aufstand, der am Abend nie einen Gedanken an den Kater am nächsten Morgen verschwendete, verkörpert wie kein zweiter die Sehnsüchte und Aggressionen seines Jahrhunderts: Mit Budapest und Wien, mit Otto Weininger, Freud und dem Kibbutzleben in Palästina war er längst durch, als er wie ein Dandy im roten Fiat-Cabrio durch Berlin fuhr und für Franz Ullstein Wissenschaftsreportagen schrieb. Die Revolution in Budapest hatte er erlebt und mit dem Luftschiff "Graf Zeppelin" den Nordpol überflogen.

Er schlug Camus ein blaues Auge, teilte sich mit Walter Benjamin in Südfrankreich dessen Selbstmord-Pillen und schlief mit Simone de Beauvoir. Er nahm teil an Mel Laskys "Kongress für kulturelle Freiheit" in Berlin, schluckte LSD mit Timothy Leary und kämpfte in Großbritannien gegen die Todesstrafe. Es gibt kaum eine intellektuelle Laune des 20. Jahrhunderts, der Koestler nicht nachgab oder die er grimmig bekämpfte. Er war ein moderner Nomade, der verstanden hatte, dass der Welt ihre Kontinuität abhanden gekommen war.

Und doch prägte ihn nichts so sehr wie die 95 Tage Einzelhaft im Gefängnis von Sevilla, als er Zeuge von Hinrichtungen seiner Mitgefangenen wurde und, wie er schreibt, in der Erwartung lebte, "ihr Schicksal zu teilen". Koestler, der im Auftrag der Partei in das Bürgerkriegs-Spanien gekommen war, nimmt in dieser Todesgefahr seine Verbindung zur ihr als Belastung wahr. Hier, in Einzelhaft, versteht er, ja, er spürt geradezu die wahre Abhängigkeit des Gefangenen, schreibt Scammell:

"Koestler dachte darüber nach, was Macht ausmacht. Er hatte nie daran geglaubt, dass eine Diktatur sich allein durch das Schwert durchsetzen könne, er war dennoch überrascht festzustellen, wie groß die Rolle ist, die der Psychologie zukommt."

Dass ihm kurz nach der Entlassung aus dem faschistischen Gefängnis jemand von ähnlichen Erfahrungen aus sowjetischen Gefängnissen berichtet, erschüttert schließlich sein Weltbild. Auch dort war das einzelne Leben nur ein Mittel zum Zweck. Er war in Spanien zum Antikommunisten geworden oder, wie eine französische kommunistische Zeitung bald schrieb, zum "Judas Koestler".

Für Leszek Kolakowski ist der Renegat noch immer ein Opfer der Stalinismus, weil er dem stalinistischen Weltbild des Entweder-Oder verhaftet bleibt. Doch Koestler war schon immer ein Mann des Entweder-Oder:

"Was Koestler so anregend und oft so unerträglich macht, war eine Form von manischer Depression, die ihn zwischen dämonischer Freude, samt übertriebenem Gefühl der eigenen Bedeutung, und einer düsteren Ergebenheit schwanken ließ, zu der chronischer Selbstzweifel gehörte".

Ausdruck solcher Schwankungen war auch, dass Koestler plötzlich aufhörte, sich politisch zu äußern. Nicht einmal der Aufstand gegen die Kommunisten in Ungarn, seinem Geburtsland, änderte daran etwas. Bei einer Protestveranstaltung in London ging er ans Mikrofon, erklärte zur Fassungslosigkeit der Anwesenden, dass er sich von der Politik verabschiedet habe, und setzte sich wieder. Er war wieder einmal zum Renegaten geworden, der nun, in seiner zweiten, äußerst produktiven Lebenshälfte vor allem als wissenschaftlicher Autor wahrgenommen werden wollte.

Koestler ist, bei allem Erfolg und aller gesellschaftlichen Anerkennung, die er in seiner neuen Heimat Großbritannien erfuhr, einen einsamen Weg gegangen. Scammell hat dieses Leben großartig aufgeschrieben, mit zurückhaltender Bewunderung und ohne die Kosten von Koestlers Bindungslosigkeit auszublenden. Er nimmt ihn gegen den Vorwurf in Schutz, die Frau des englischen Labour-Politikers Michael Foot vergewaltigt zu haben, verschweigt aber nicht Koestlers zur Härte neigende sexuelle Ausdrucksform. Seine zweite Frau sagte über Koestler: "Er liebt nicht, er projiziert seinen Selbsthass auf andere." Die Tochter, die er nie haben wollte, nahm er nicht einmal als erwachsene Frau zur Kenntnis. "Für einen brillanten und hyper-empfindsamen jungen Mann war ich erstaunlich dumm, wenn es um andere ging", sagte Koestler einmal über den jungen Koestler. Das traf auch auf den alten Koestler zu.

Arthur Koestler war dem 20. Jahrhundert einen Schritt voraus, doch die intellektuellen und emotionalen Stürme, die in ihm tobten, waren dieselben, die auch dieses Jahrhundert erschütterten. Koestlers "erstickter" Aufschrei, wie er es einmal nannte, "richtete sich gegen die Idee, dass das Ziel die Mittel rechtfertigt". Es ist der noch immer zeitgemäße antitotalitäre Aufschrei eines Mannes, der so früh das Ende der Geschichte erkannt hat und der heute dennoch fast vollkommen vergessen ist.

Rezensiert von Moritz Schuller

Michael Scammell: Koestler. The Literary and Political Odyssey of a Twentieth-Century Skeptic
Faber & Faber, London 2010
Cover Michael Scammell, "Koestler"
Cover Michael Scammell, "Koestler"© Faber & Faber Publishers
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