Buchwald / Sandig (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2017

Staraufgebot und eine Überraschung

Cover: "Jahrbuch der Lyrik 2017", im Hintergrund: Ein Blick auf den Weinanbau im Elqui-Tal in Chile
Cover: "Jahrbuch der Lyrik 2017", im Hintergrund: Ein Blick auf den Weinanbau im Elqui-Tal in Chile © Schöffling & Co / imago / imagebroker
Von André Hatting · 06.05.2017
Das aktuelle Jahrbuch der Lyrik ist ein Who is Who der neuen deutschsprachigen Poesie. Mit dabei sind Beiträge von Herta Müller, Friederike Mayröcker und Jan Wagner. Aber auch die Stücke der weniger Bekannten lassen sich mit Gewinn lesen.
Seit 1979 erscheint das Jahrbuch der Lyrik. Es ist immer für Überraschungen gut. Die größte am aktuellen ist das Staraufgebot: von der Nobelpreisträgerin Herta Müller über die grande dame der experimentellen Lyrik, Friederike Mayröcker, bis zu Jan Wagner, dem ersten und bislang einzigen Lyriker, der den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat – die aktuelle Anthologie ist ein Who is who der Arrivierten.
Die deutsche Schriftstellerin und Nobelpreisgewinnerin Herta Müller.
Die deutsche Schriftstellerin und Nobelpreisgewinnerin Herta Müller.© picture-alliance / dpa / Laszlo Beliczay
Offenbar wollten die Herausgeber nach den durchwachsenen Erfahrungen mit der letzten Ausgabe das Risiko minimieren. Sie haben nicht nur gesichtet, was eingeschickt wurde, sondern gezielt Autorinnen und Autoren angeschrieben, um die vollmundige Ankündigung des Verlags einzulösen, die das Jahrbuch zur "bedeutendsten jährlichen Sammlung neuer Poesie in deutscher Sprache" erklärt. Die Strategie ist aufgegangen, die Stars haben geliefert.
Der Schriftsteller Jan Wagner
Der Schriftsteller Jan Wagner© picture alliance / dpa / Jens Kalaene

Kein missratener Text

Aber auch die Beiträge nicht ganz so bekannter Autorinnen und Autoren lassen sich mit Gewinn lesen. Es gibt, und das ist die zweite, sehr angenehme Überraschung, keinen missratenen Text. Selbst bei einer so riskanten Gattung wie der politischen Dichtung nicht, wie zum Beispiel Dagmara Kraus mit ihrer deutschyzno moja eindrucksvoll beweist. Dort überschreiten Worte als Flüchtlinge Sprachgrenzen und durchdringen einander:
1
liedvoll, dojczyzno moja …
millionen flüchtige wörter stehen an
der grenze zu diesem gedicht
die beine in den bauch sich
schlange an der grenze
dunkle wörter, dunkle fremde
suchen nach zuflucht, wollen hier wohnen
[…]
wörter aus dem buch der könige
hocken im containerdorf: umfwörter
aus saba, noch milchschorf im haar
labern babel
[…]
Montage, Palimpsest, Fragment, Lied, Sonett; arabische Schriftzeichen, chemische Formeln, Comic; Schlagreim, Binnenreim, gar kein Reim – die deutschsprachige Lyrik ist so vielseitig wie die Erfahrung von Welt komplex. An dem einen Ende steht eher konventionelle, aber darum nicht schlechte Poesie, am anderen formradikale Meditationen wie beispielsweise Paul-Henri Campbells Text über Sylvia Plaths A black rook in rainy weather. Dazwischen gibt es beachtliche Versuche zu entdecken, das poetische Erbgut wieder zum Glühen zu bringen, was unter anderem Bertram Reinecke mit seinen Verstimmten Sestinen virtuos gelingt.

Zurück zum jährlichen Erscheinen

Dankenswerterweise haben die diesjährigen Herausgeber Ulrike Almut Sandig und Christoph Buchwald den Blick noch einmal geweitet und ein Kapitel der visuellen Poesie gewidmet – auf Hochglanzpapier und in Farbe!
Der Verlag Schöffling & Co, der dieses Jahr zum ersten Mal das Jahrbuch veröffentlicht, hat dem Band ein gebundenes Format mit Lesebändchen spendiert. Außerdem kehrt er zu einer jährlichen Erscheinungsweise zurück. Das nächste Jahrbuch soll bereits 2018 erscheinen. Das ist ein starkes Signal und zugleich schöner Beweis für die gestiegene Wertschätzung der Lyrik.

Christoph Buchwald und Ulrike Almut Sandig (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2017
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2017
232 Seiten, 22 Euro

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