Bettina Wilpert: "Nichts, was uns passiert"

Ein wichtiger Roman über sexuelle Gewalt

Buchcover Bettina Wilpert: "Nichts, was uns passiert"
Nach der Vergewaltigung leidet Anna unter Depressionen, erst zwei Monate nach der Tat erstattet sie Anzeige. © Verbrecher Verlag / dpa
Von Stefan Mesch · 21.03.2018
Anna wird von einem Bekannten vergewaltigt. Erst Monate später stellt sie Anzeige. Doch der Täter will kein "Nein" gehört haben. - In "Nichts, was uns passiert" thematisiert Bettina Wilpert die juristischen und persönlichen Folgen einer Vergewaltigung.
Die ersten Rezensionen liegen falsch. Bettina Wilperts Debütroman über juristische und persönliche Folgen einer Partynacht während der Fußball-WM 2014 ist kein "moralphilosophisches Gedankenexperiment". Kein Vexierbild. Kein Krimi-Puzzle. Kein "Sie sagt, er sagt"-Paradox, bei dem nur zwei Menschen "wissen können, was damals wirklich passiert ist".
Richtig ist: Es gibt in "Nichts, was uns passiert" kein Rätsel, das uns fesseln soll. Anna ist 27. Sie will dolmetschen, jobbt nach dem Studium in einer Kneipe und lernt in der Bibliothek den neuen Kumpel eines ehemaligen Mitbewohners kennen. Jonas promoviert über ukrainische Popliteratur und hat nach einer Trennung Lust auf Sex - will Anna aber keine falsche Hoffnungen machen. Dass sie schnell laut wird, widerspricht, viel trinkt, findet er aufmüpfig, vorlaut und provokant. Also haben sie einvernehmlichen Sex und gehen danach getrennte Wege.

Zu betrunken, um ihn aufzuhalten

Dann sehen sie sich auf einer Geburtstagsparty in Jonas' WG wieder. Anna betrinkt sich. Hat einen Filmriss und findet sich in Jonas Zimmer wieder. Jonas will wieder Sex. Anna sagt diesmal nein - oder glaubt zumindest, nein gesagt zu haben: Sie ist zu kraftlos, zu betrunken, um ihn aufzuhalten. Fast 30 Minuten lang erträgt sie, wie Jonas sich wortlos an ihr abarbeitet. Sie weiß: Er hat ihr Selbstbestimmungsrecht missachtet. Erst nach zwei Monaten Depression, Wut, Isolation stellt sie eine Anzeige. Jonas sagt, er habe kein "Nein" gehört. Er fühlt sich gebrandmarkt, stigmatisiert: Der Vorwurf ruiniere sein Leben. Zerren "echte" Vergewaltiger nicht Frauen ins Gebüsch? Wo liegt die Grenze zwischen schlechtem Sex und "Date Rape"?
"Nichts, was uns passiert" hat eine schwer zu verortende Erzählstimme. Eine Reporterin? Ein Freund von Anna und Jonas? Nein - eine theoretische, künstliche Protokoll-Instanz, die nüchtern journalistisch berichtet, was jede Figur zu Protokoll gibt: Annas besorgte Schwester, Jonas' Kiffer-Freunde aus der Jugend. Eine linke Aktivistin, die eine "Support Awareness Group" gründet und Jonas Hausverbot in der Volksküche erteilt. Auf berauschende Sprache, Lyrizismen, raffinierte Spiele mit Geheimnissen und Perspektive verzichtet Wilpert: Milieu und Figuren sind plastisch genug, um plausibel zu wirken. Doch mit Rollenprosa oder den unzuverlässigen Erzähler-Tricks aus Nabokovs "Lolita" hat das Buch nichts gemein. Auch, wer süffige "Aussage gegen Aussage"-Rätsel mag, liest besser Spannungsliteratur wie "Gone Girl".

Ein wichtiges Buch

170 Seiten genügen Wilpert, um alle maßgeblichen Fragen und Widersprüche mindestens anzureißen: Welche juristischen, psychologischen, gruppen- und gesellschaftsdynamischen Folgen hat ein sexueller Übergriff, sobald das Opfer Kraft findet, Anzeige zu stellen? Dass Wilpert keinen realen Fall verwertet, sondern alles an zwei etwas künstlichen, bewusst exemplarischen linken Leipziger Studierenden durchspielt, macht das Buch angenehm griffig: als Schul- oder Seminarlektüre, als Diskussionsbasis für Lese- und Gesprächskreise ist der präzise, dichte, uneitle Roman ideal. Nur drei Prozent aller Vergewaltigungsvorwürfe, zitiert Wilpert eine Aktivistin, sind Falschaussagen, Rufmord. Nur fünf Prozent aller Übergriffe werden angezeigt. Bei keinem Fünftel davon erfolgt ein Schuldspruch. Juristisch hat Anna keine Chance. Doch darf sie sich missbraucht fühlen? Darüber sprechen? Daran lässt das wichtige, komplexe Buch keine Zweifel.

Bettina Wilpert: "Nichts, was uns passiert"
Roman
Verbrecher Verlag, Berlin 2018
168 Seiten, 19 Euro