Aus den Feuilletons

Ein Terrier als politischer Gefangener?

Niedersachsen, 10.04.2018, Langenhagen: Der Staffordshire-Terrier-Mischling, Chico, wird von Tierpfleger Wolfgang K. auf dem Gelände des Tierheims Krähenwinkel an der Leine ausgeführt um ihn durch Claus Reichinger ( Tierschutzverein München) zu begutachten. Der Hund hat seine 27 und 52 Jahre alten Besitzer in ihrer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Hannover Buchholz getötet
Chico hat seine 27 und 52 Jahre alten Besitzer in ihrer Wohnung in Hannover getötet. © imago/localpic
Von Arno Orzessek |
Eine Viertelmillion Menschen setzen sich für das Überleben von Chico ein, der seine Halterin und deren Sohn tot gebissen hat, doch das Leben der Kinder in Syrien scheint die Petenten weniger zu interessieren. Ist dieser Vergleich überhaupt haltbar?
"Deutschland hat wieder einen politischen Gefangenen: Den Staffordshire-Terrier Chico", heißt es in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Falls Sie gerade aus einem langen Koma erwacht sind: Chico ist dieser – in entspanntem Zustand – durchaus putzige Vierbeiner aus Hannover, der seine im Rollstuhl sitzende Halterin und deren Sohn tot gebissen hat. Binnen Kurzem haben im Internet über 250.000 Menschen eine Petition unterzeichnet, die fordert: "Bitte lasst Chico leben" und den ZEIT-Autor Martin Eimermacher ins Grübeln bringt.
"Es gibt gute Gründe, die Todesstrafe, wie das Wording der Chico-Unterstützer im Internet lautet, abzulehnen. Sind wir doch nicht im Frankreich des Jahres 1386, als ein Schwein, das einen Säugling tot gebissen haben soll, vor das berühmte ‚Tribunal von Falais' gestellt und schließlich dem Galgen übergeben wurde. […] Dennoch bleibt zu fragen: Warum machen Hunderttausende das Leben eines womöglich gemeingefährlichen Hundes zu ihrem Anliegen? Während die zerfetzten Kinder in Syrien bloß Achselzucken hervorrufen, deren einziger Fehler es war, dort geboren zu werden, wo das Assad-Regime seit Jahren Fassbomben abwirft."
Weil kein Vergleich ist, was nicht hinkt, sehen wir es dem ZEIT-Autor Eimermacher nach, dass er Chico mit den Kinderleichen Syriens in Beziehung setzt… Zumal uns an der Causa Chico ohnehin das Absurde berührt. Die Halterin soll den Hund nicht zuletzt angeschafft haben, um sich vor dem Mann zu schützen, der sie per Hackebeil-Attacke in den Rollstuhl befördert hat.

Nobelpreisakademie als Zoff- und Klüngelanstalt

Zwischen dem Staffordshire-Terrier-Haushalt in Hannover und der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis vergibt, liegen kulturelle Welten – sollte man meinen. Aber das Tier im Mann, um ein letztes Mal auf Chico anzuspielen, hausiert auch dort. Etwa in der Person von Jean-Claude Arnault, der sich – wie es in der Tageszeitung DIE WELT heißt – gern als inoffizielles 19. Mitglied der Akademie bezeichnet.

18 Frauen haben im Zug der MeToo-Bewegung Zeugnis abgelegt von Arnaults sexuellen Übergriffen. Der WELT-Autor Hannes Langendörfer berichtet Einzelheiten – wie immer war vieles bekannt, wie immer haben fast alle gern weggeschaut –, vor allem aber porträtiert er die Akademie als Zoff- und Klüngel-Anstalt ersten Ranges. Sehr lesenswert!

Dietmar Dath erklärt Karl Marx

Gleiches behauptet, wenn auch mit anderen Worten, Jens-Christan Rabe von Dietmar Daths Reclam-Heft "Karl Marx. 100 Seiten". Unter der ansprechenden Überschrift "Kalte Wut erkennt das Übel" freut sich Rabe in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:
"Ein echtes argumentatives Kunststück vollbringt Dath in der Mitte des Buches. Er erklärt darin nicht nur die idealistische hegelsche Dialektik und ihre Bedeutung für die Materialisten Marx und Engels. Er beantwortet auch die theoretische Gretchenfrage, warum die beiden auf ihrem Weg vom Idealismus zum Materialismus eben diese Dialektik doch nicht ‚mitverschrotten‘ mussten."
Also wir werden Daths offenbar erklärungsstarkes Buch auf jeden Fall lesen. Denn als wir das letzte Mal einen dicken Dath lasen, das Buch heißt "Implex", hatten wir nach 880 Seiten den Eindruck, dass da einer unter pathologischer Verkomplizierungsmanie leidet… so metaphernlüstern-poppig Daths Filmkritiken in der FAZ auch rüberkommen.

Romy Schneider: Der Anfang vom Ende

Apropos Film! Alle Feuilletons bringen irgendetwas – Kritiken, Interviews, Reminiszenzen – zu "3 Tage in Quibéron", dem Film von Emily Atef über die späte, champagnersüchtige Romy Schneider, gespielt von Marie Bäumer. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG liest Nina Jerzy an Schneiders Karriere – manchen "Sissi"-Fan mag das erstaunen "den Niedergang der Kinostars" ab.
"Schneiders Karriere verlief parallel zur allmählichen Menschwerdung der Leinwandgötter. Sie selbst hatte sich dem Idolklischee entzogen und sich lieber ‚wahren‘ Frauenrollen verschrieben. Wenige Jahre nach Schneiders Tod 1982 begann die große Zeit der Stars von nebenan, allen voran Meg Ryan, Julia Roberts und Tom Hanks."
Nun denn. Wir verabschieden uns mit einer ZEIT-Überschrift, die kein Ratschlag, sondern ein Schlag-Rat ist. Sie lautet: "Der Klügere schlägt zu."
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