Antisemitismus-Debatte

Der Mythos vom No-go-Neukölln

Gäste sitzen am 03.05.2017 vor dem Cafe und Recordstore "Gordon" mit israelischer Küche in der Allerstraße in Berlin Neukölln. Hier werden auch Schallplatten und Vinyl angeboten.
Gerade in Berlins migrantischen Vierteln leben inzwischen Tausende Israelis, so Yossi Bartal. © dpa-Zentralbild / Jens Kalaene
Von Yossi Bartal · 08.05.2018
Yossi Bartal stammt aus Jerusalem und lebt seit zehn Jahren in Berlin-Neukölln. Den selbsternannten Beschützern hier lebender Juden ruft er zu: Ja, es gibt hier Antisemitismus. Aber trotzdem ist Neukölln keine No-go-Area für Juden.
Die jüngsten Fälle antisemitischer Gewalt in Schulen oder auf den Straßen Berlins erzeugen Gefühle starker Unsicherheit unter Mitgliedern der jüdischen Gemeinden. Dabei spielt die Angst vor Muslimen unleugbar eine Rolle, auch wenn laut Polizeistatistik die meisten Angriffe gegen Juden von deutschen Rechtsextremisten ausgehen.
Nichtsdestotrotz wird immer wieder behauptet, dass muslimisch geprägte Stadtteile Berlins wie Nord-Neukölln "No-Go-Zonen" für Juden seien.

Viele Israelis leben in Neukölln

Ignoriert wird dabei nicht nur, dass die meisten gewalttätigen Vorfälle gar nicht dort stattfanden. Sondern auch, dass gerade in Berlins migrantischen Vierteln inzwischen Tausende Israelis leben. Wie auch die deutschen Juden tragen sie meist keine religiösen Symbole.
Ihre jüdische Identität können sie dennoch nur schwer verbergen, mit ihren hebräischen Namen und ihrem Akzent. Sie scheinen ihre Identität aber auch gar nicht verstecken zu wollen. Auf der Straße, in Cafés oder in den Hummus-Restaurants hört man oft Hebräisch.
Israelis wohnen Tür an Tür mit palästinensischen und türkischen Familien, lernen in Sprachschulen gemeinsam mit Syrern, engagieren sich bei der Flüchtlingshilfe, tanzen bei Partys zu orientalischen Beats gemeinsam mit anderen Menschen aus dem Nahen Osten. Oder üben beim Einkauf in arabischen Supermärkten ihr gebrochenes Schul-Arabisch.
Laut den Panikmachern sollten gerade diese Israelis die am meisten gefährdete Gruppe Deutschlands ausmachen. Trotzdem treffe ich wöchentlich Israelis, die ein WG-Zimmer gerade in dieser Nachbarschaft suchen und denen es davor graut, in einen eher homogenen Bezirk der Stadt zu ziehen.

Die Wut überrascht nicht

Nicht alles ist perfekt. Auch in meinem Kiez kommt es zu gewalttätigen Übergriffen. Dennoch scheuen sich viele Israelis, all ihre negativen Erfahrungen in einen einzigen antisemitischen Topf zu werfen.
Die Wut auf den Staat Israel, gerade wenn sie von Palästinensern kommt, ist für uns nicht überraschend. Gewalttätige Sprache verteilt sich in unserem Heimatland gleichmäßig auf beide Konfliktparteien – die traurige, wenn auch erwartbare Folge der Kriegssituation. Zudem sind viele von uns nach Berlin gezogen, weil wir selber mit der israelischen Politik nicht einverstanden sind.
Dass Antisemitismus auch heute in der deutschen wie auch in der migrantischen Bevölkerung vorhanden ist, würde keiner meiner israelischen Bekannten abstreiten. Sie würden aber ausdrücklich bestreiten, dass seine Existenz ihr Leben bestimmt oder sie in Angst versetzt.
Die wohlgemeinten Warnungen über die Bedrohung von jüdischem Leben sehen viele Israelis daher nicht nur als eine überdramatisierte Darstellung an, sondern auch als eine Botschaft, die ihr Existenzrecht in der Diaspora verneint: Nur in Israel seid ihr sicher! Da gehört ihr hin!

Gemeinsam Lösungen suchen statt Ressentiments schüren

Neben den zynischen Instrumentalisierungsversuchen der AfD, die plötzlich ihre Israel-Liebe entdeckt, befremden uns vor allem Bestrebungen, Kritik an der israelischen Politik mit Antisemitismus gleichzusetzen.
Einige Organisationen, die sich der Antisemitismus-Bekämpfung verpflichtet sehen, sind bemüht, Proteste gegen israelische Politik, selbst von Israelis und Juden, zu antisemitischen Vorfällen zu erklären. Sogar die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen wird dabei als judenfeindlich diffamiert.
Es ist daher nicht überraschend, dass die zumeist linksliberalen Israelis in der Stadt eher ablehnend auf ihre selbsternannten deutschen Beschützer reagieren. Den antidemokratischen Rechtsruck, den sie mit Schrecken in Israel beobachten, erkennen sie auch teilweise in der jetzigen Debatte wieder, nämlich dann, wenn Ressentiment gegen eine bereits diskriminierte Minderheit geschürt wird, statt nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.

Yossi Bartal ist in Jerusalem aufgewachsen und lebt seit zehn Jahren in Berlin-Neukölln. Er ist freier Autor und Aktivist in verschiedenen antirassistischen Initiativen.



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