75 Jahre CDU

Was macht wahren Konservatismus heute aus?

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Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, steht im blauen Blazer mit dem Rücken zur Kamera.
Die Bundeskanzlerin gibt die Mahnerin in der Coronakrise © imago / photothek / Florian Gärtner
Ein Standpunkt von Mathias Greffrath · 26.06.2020
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Wofür steht eigentlich die CDU? Das fragen sich selbst innerhalb der Partei inzwischen viele - und sehnen sich nach einem konservativeren Profil. Der Publizist Mathias Greffrath hat Vorschläge, wie ein solches Profil aussehen könnte.
Seit Angela Merkel die CDU in eine zweite sozialdemokratische Partei verwandelt hat, klafft rechts von ihr eine Lücke, und auch innerhalb der Partei wächst die Sehnsucht nach einem "anspruchsvollen Konservatismus".
Das krause AfD-Gemengsel aus Xenophoben, Frauenfürchtern, SED-Rentnern, denen das Weltbild, Kleinhändlern, denen die Existenz abhanden kam, und vielen schlecht ausgebildeten jungen Männern aus strukturschwachen Gebieten – steht allerdings ebensowenig für einen "anspruchsvollen Konservatismus" wie seine disparate Führungsschicht aus Nationalisten, spätpubertierenden Träumern von einer völkischen Revolution und rechtsradikalen Demokratiefeinden.

Die Schöpfung bewahren

Ein "anspruchsvoller" Konservatismus – das wäre einer, der konservative Werte wie Naturverbundenheit, Heimatliebe, Pflichtethos, Kontinuitätsstreben, Traditionsbewusstsein, Christentum - nicht nur polemisch missbrauchte, sondern zu realpolitischen Forderungen zuspitzte.
Aus Achtung vor der Schöpfung würde ein solcher Konservatismus die Massentierhaltung beenden, die Vergiftung der Böden sanktionieren, die Landschaften pflegen.
Aus Traditionsbewusstsein würde er die Verschandelung der Städte durch Investorengier bekämpfen und die nicht vermehrbare Ressource Grund und Boden der Spekulation entziehen.
Ein genuiner Konservatismus, der die bäuerlichen Werte pflegt, würde nicht nur für sich und die nächste Generation vorsorgen, sondern weit in die Zukunft – in der Klimapolitik wäre er von niemandem zu übertrumpfen.

Konservatismus setzt auf gewachsene Gemeinschaften

Konservative wissen, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen, sondern dass man mit begrenzten Ressourcen wirtschaften muss. Also wären sie gegenüber einem ungebremsten Wachstumsregime um einiges kritischer als die wachstumsseligen Parteien der Mitte.
Gegen den marktradikalen Individualismus und zentralistische Bürokratien setzt der Konservatismus auf gewachsene Gemeinschaften, seine Steuergesetze stärkten die Kommunen, privilegierten Genossenschaften, regionale Wirtschaftsnetze, lokale Banken, Bürgerfonds. Den zentrifugalen Kräften der Globalisierung hätte er nie vertraut.
Konservative glauben, dass ein selbstverantwortliches Leben auf Eigentum ruht. Aber als Realisten wissen sie: In einer dynamischen, komplexen arbeitsteiligen Gesellschaft kann nicht länger das individuelle Kleineigentum die Grundbedürfnisse sichern, sondern nur starke solidarische gesellschaftliche und staatliche Institutionen – wie uns die unmittelbare Gegenwart zeigt.
Konservative würden die Familien stärken, also deren Diskriminierung durch ein individualistisches Steuer-und Abgabensystem beenden, es Männern und Frauen leichter machen, Familien zu gründen – durch bessere Kinderbetreuung und Ganztagsschulen.
Gegen die Monetarisierung und Mechanisierung von Pflege und Gesundheit würden sie auf die Kräfte der Solidarität setzen und Bürgerpflichten einfordern – etwa über ein soziales Jahr für alle, als Abschluss der Schulzeit.

Gegen einen Wandel, der uns wie ein Schicksal überkommt

Konservative denken in historischen Gemeinschaften. Daher wissen sie, dass der gegenwärtige Wohlstand sich der Arbeit vergangener Generationen verdankt, dass deshalb, wie es der Liberalkonservative Walter Rathenau schrieb, "Eigentum, Verbrauch und Anspruch nicht Privatsache sind", und dass deshalb die großen Industrieunternehmen mit Hilfe des Aktienrechts auf das Gemeinwohl zu verpflichten sind.
Und schließlich sind genuin Konservative skeptisch gegenüber dem starken Nationalstaat, emotional eher der Region, und intellektuell eher einer gesamteuropäischen Kultur verbunden.
Ein solcher Konservatismus hat nirgendwo institutionelle Gestalt angenommen. Aber die politischen Gefühle der Zerstörung des Mittelstands, der Monetarisierung der Pflege, der Belastung des Familienlebens, der Verwahrlosung der Schulen, des kommerziell angeheizten Hedonismus, der Schändung der Natur und nicht zuletzt angesichts der pathogenen Beschleunigung der Gesellschaft – diese Gefühle sind konservativ, aufs Bewahren gerichtet.
Sie protestieren gegen einen Wandel, der wie ein Schicksal über uns kommt. Aber eine Partei, die aus diesen Gefühlen ihr Programm formte, wäre so radikal, dass sie kaum koalitionsfähig mit der immer größer werdenden Koalition der Weitermacher wäre. Sie würde sich mit fast allen anlegen und sie könnte das intellektuelle Vakuum des Mainstreamss verwirbeln. Mein Gefühl sagt mir: sie wäre populär – und nicht populistisch.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "Die Zeit", die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?"

Der Journalist und Schriftsteller Mathias Greffrath im Porträt
© picture alliance/Horst Galuschka/dpa
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