25 Jahre Deutsche Einheit

Ein Vierteljahrhundert Bitterkeit

Von "Fortschritt" kann im ehemaligen Lautex-Betrieb in der Zittauer Weststraße kaum mehr die Rede sein: Das Werk, in dem noch vor zwei Jahren 645 Beschäftigte Baumwollgewebe herstellten, wurde per 31. Dezember 1991 stillgelegt.
Fortschritt? Von wegen. Für viele Betriebe im Osten bedeutete die Wende das Aus. © dpa / picture alliance / Thomas Lehmann
Von Dieter Bub · 30.09.2015
"Blühende Landschaften" hatte Helmut Kohl den Ostdeutschen versprochen. Doch die Einheit im Eiltempo brachte nicht nur Gewinner hervor - manche Ostdeutsche leiden bis heute unter dem, was ihnen damals widerfuhr. Und sie sind verbittert.
Der Aufbruch im Herbst 1989. Leipzig, Dresden, Magdeburg, Plauen, Potsdam, Ost-Berlin - Massenproteste gegen die SED-Regierung in der DDR, gegen den "real existierenden Sozialismus", gegen die Staatssicherheit, die Überwachung, die Bevormundung, die Reglementierung. Der Ruf nach Freiheit.
Dieser Ruf "Wir sind das Volk" war nicht die Willensbekundung "des Volkes", sondern nur eines Teils der Bevölkerung der DDR. Petra Müller ist Tierärztin in Gerswalde.
"Ich hab gesagt, Ihr werdet schon alle sehn, was ihr davon habt. Zu den Kollegen, die so euphorisch waren. Ich hab gesagt, der Kapitalist schenkt uns nichts und ist ja so gekommen."
Eckart Zinn, Kleinunternehmer in Buschdorf im Oderbruch:
"Dass die Leute, die damals in Leipzig auf die Straße gegangen sind, sich so das bestimmt nicht vorgestellt haben, wie das gekommen ist, jetzt."
Dr. Volker Thomas arbeitete bis 1989 beim Zentralkomitee der SED.
"Das war für mich nicht das Ziel. Ich wollte die DDR anders, aber ich wollte die DDR, ich wollte nicht die Bundesrepublik."
In die Euphorie großer Erwartungen stimmten diejenigen nicht ein, die ein anderes Ziel hatten. Statt der Einheit plädierten sie für Veränderungen in der DDR und einen Weg der Annäherung. Viele von ihnen waren Führungskader: Funktionäre, Mitglieder der SED, Lehrer, Offiziere der Armee, kleine Funktionäre mit Privilegien und ein Heer von Mitarbeitern der Staatssicherheit.
Volker Thomas, Mitarbeiter in der Abteilung Grundstoffindustrie im Zentralkomitee der SED bei Wirtschaftsminister Günter Mittag, ist noch heute überzeugt, dass ein anderer Weg besser gewesen wäre.
"Man hätte der DDR Zeit geben müssen. Portugal hatte 20 Jahre Zeit, um in die EU reinzukommen. Die DDR hatte nicht mal sechs Monate Zeit und die DDR-Wirtschaft war auf dieses System nicht eingestellt. Das zweite war diese Eins-zu-Eins-Umstellung oder eins zu zwei. Das Verhältnis war eins zu vier, was real war zur D-Mark von unserer Valutamark. Das konnte nicht gut gehen. Wirtschaftlich war das ein falscher Schritt. Man hätte zusammenwachsen können. Da hätte ich Verständnis dafür gehabt. Das war ja auch mal so gedacht in den 85er, 86er, 87er Jahren."
Der Liedermacher und Historiker Reinhold Andert gehörte zu den Mitbegründern des Oktoberclubs, der Singebewegung der DDR, einer Agitationsgruppe der FDJ. Als überzeugter Anhänger eines sozialistischen Staates forderte er statt zunehmend platter Parolen eine kritische Auseinandersetzung und geriet so mit der SED in Konflikt. 1980 wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Er sah in den Montagsdemonstrationen eine Chance für die Zukunft.
"Das ging so weit bis zur Konföderation, dass die Staatsbürgerschaft der DDR offiziell anerkannt würde, dass ein Umtauschsatz festgelegt würde. Aus der deutschen Geschichte weiß ich, dass solche Umbrüche, Änderungen von Gesellschaftsformen, eigentlich sehr lange dauern."
Gefälschte Statistiken, Schlendrian und Schludrian
Nach 1989 kam ans Licht, was Psychiater Hans Joachim Maaz aus Halle an der Saale so beschreibt:
"Zum einen schlagen alle verheimlichten, vertuschten, beschönigten und tabuisierten Probleme des real existierenden Sozialismus mit voller Wucht ins Bewusstsein der Menschen. Die ewigen Erfolge, die Planübererfüllungen und Produktionssteigerungen erweisen sich als gefälschte Statistiken, als Schlendrian und Schludrian, als Misswirtschaft, als Leben von der Substanz und vor allem als gnadenlose Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Umwelt. Zum anderen werden die Tabus der Gesellschaft laufend aufgedeckt."
War der Weg vom Herbst 1989 zum Herbst 1990 alternativlos? Es waren viele, die sich zumindest einen längeren Zeitraum des Übergangs bis zur Vereinigung beider deutscher Staaten vorstellen konnten. Zu denen gehörte auch der Oppositionelle Rainer Eppelmann, Begründer der Bluesmessen in der Ostberliner Samaritergemeinde, während sein Amtskollege Joachim Gauck von solchen Ideen gar nichts hielt. Er nannte alle, die den Aufruf "Für unser Land" verfasst hatten, ahnungslose Fantasten.
Im Westen wurde Oskar Lafontaines Forderung nach einem dritten Weg der allmählichen Annäherung als Verrat an den Interessen der Bevölkerung der DDR vom Tisch gewischt. Wobei die Währungsunion die logische Konsequenz des Mauerfalls war. Und den hatte nicht die Bonner Regierung durchgesetzt, sondern die SED bewirkt, als sie dem Druck der Bevölkerung nachgab und die Reiseregelung so verkündete, dass sich "das Volk" noch am selben Abend den Weg in den Westen bahnte.
Der Mauerfall, die Rufe "Wir sind ein Volk", der Exodus in den Westen, die Drohung "Kommt die D-Mark nicht zu uns, geh'n wir zu ihr" – all das erzeugte einen Handlungsdruck, an den Politiker in Ost und West vorher nicht gedacht hatten. Mit der revolutionären Dynamik wurden die Spielräume, Alternativen auszuloten, immer enger.
Monika Thomas, früher Lehrerin, Pionierleiterin und SED–Mitglied, erinnert sich:
"Mein erstes Gefühl war ein bisschen Erschrecken, Erschrecken über eine Situation, die völlig unbekannt und für mich nicht greifbar war, aber für mich doch bedeutend war: Was passiert denn jetzt mit meinem Leben und wie soll das erst mal weitergehen, so ein wenig Fassungslosigkeit, aber auch Fragen, was jetzt passieren soll."
Von einem Tag auf den anderen hilflos
Besonders die Millionen in Diensten des SED–Regimes, die in das hohe Lied auf den real existierenden Sozialismus eingestimmt hatten, manchen Zweifeln zum Trotz – sie waren von einem Tag zum anderen hilflos, ihrer Positionen und Funktionen beraubt. Kleine Funktionäre auch der Blockparteien, Mitarbeiter in Organisationen und Verbänden, Mitglieder der Betriebskampfgruppen und viele andere in diesem Apparat einer aufgeblähten Bürokratie der Pfründenwirtschaft. Für sie – und nicht nur für sie - war die rasante Entwicklung 1990 ein Schock, weil ihr Leben aus den Bahnen geworfen wurde.
Doch im Frühjahr 1990, als der Bankrott des SED-Regimes offenkundig wurde, war die Entwicklung nicht aufzuhalten. Der Wahlsieg der konservativen "Allianz für Deutschland" am 18. März dokumentierte den Willen, die Übergangszeit möglichst kurz zu halten und mit der deutschen Einheit wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben.
Die Bonner Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl war gezwungen, in der DDR schnell die D-Mark einzuführen – was bei einem Umtauschsatz von 1:1 beziehungsweise 1:2 unvermeidlich die Konkurrenzfähigkeit der DDR-Wirtschaft schlagartig ruinierte. Wirtschaftsexperten hatten davor gewarnt, aber in der aufgeladenen Situation des Sommers 1990 hatte die politische Entscheidung Vorrang vor ökonomischer Rationalität.
Helmut Kohl übertünchte diesen gefährlichen Widerspruch durch das schöne Versprechen blühender Landschaften. Eine nebulöse Verheißung, die die heißen Themen aussparte: Kohl versprach nicht den Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze. Er versprach auch nicht, sich für die Modernisierung und Erhaltung ostdeutscher Betriebe als Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit einzusetzen.
Für viele DDR-Bürger wurde die Organisation, die die Privatisierung der DDR-Wirtschaft betrieb, zum Inbegriff des Bösen: die Treuhandanstalt. Ursprünglich war sie gegründet worden, damit der verfügbare Teil des DDR–Eigentums von geschätzten 800 Milliarden Euro den Bürgern zugutekommen sollte. Stattdessen gab es ohne Mitsprachemöglichkeit die Anweisung zur Privatisierung von 5.000 Immobilien, 10.000 Firmen und 25.000 Kleinbetrieben. Für Volker Thomas hat das Auswirkungen, die bis heute spürbar sind:
"Die Steuereinnahmen in den neuen Bundesländern sind bei durchschnittlich 50 Prozent gegenüber der alten Bundesrepublik. Also, es ist ein Transfergebiet geworden in solcher Größenordnung, was sich nie jemand gedacht hat."
Die DDR–Großbetriebe waren nach 1990 zunächst am Ende. Sie waren personell bei versteckter Arbeitslosigkeit und ineffizienten Produktionsbedingungen total überbesetzt.
Manche LPG-Vorsitzende erkannten ihre Chance
In der Landwirtschaft gab es bis 1989 3800 LPGs mit 750.000 Bauern. Das Vermögen der Betriebe wurde auf 20 Milliarden D-Mark geschätzt. Mit Massentierhaltung, der Verwendung von Pestiziden und der Einleitung von Gülle in Flüsse und Seen waren die LPG–Vorsitzenden bemüht, die hohen Vorgaben der Planerfüllung zu erreichen. Abnehmer waren die osteuropäischen RWE–Staaten und, zu niedrigen D-Mark-Preisen, auch die Bundesrepublik.
1990/91 verloren die meisten LPG-Bauern ihren Job, die LPG-Vorsitzenden aber erkannten ihre Chance. Zu ihnen gehörte Wilfried Baldermann in Dobbin–Linstow im Norden von Mecklenburg-Vorpommern. 1991 erkannte er, dass man aus der ehemaligen LPG durchaus einen marktwirtschaftlich konkurrenzfähigen Betrieb machen konnte.
"Wobei ich davon ausgehe, dass ich als LPG–Vorsitzender über 20 Jahre unter dem Regime der SED durchgehalten habe, jetzt noch einmal eine neue Perspektive für mich sehe."
Baldermann holte sich Experten aus der Stadt, die ihn bei seinen Privatisierungsplänen und bei der Beschaffung von Krediten berieten. Von Woche zu Woche entließ er Mitarbeiter. Sie ahnten schon 1990, was ihnen bevorstand.
"In der Landwirtschaft sieht's sehr mies aus, würde ich sagen. Die Absatzschwierigkeiten, die uns allen Angst machen, denn schließlich leben wir davon. Von dem, was wir einnehmen, wird der Lohn bezahlt. Und damit sieht's sehr mies aus. Entweder die wollten das nicht wissen, entweder die Bauern sind doof auf Deutsch gesagt. Die werden sich schon helfen. Wir haben kein Geld, woher sollen wir Geld haben?"
Das Ergebnis war die "Rinderzucht GbR Wilfried Baldermann". Ein Teil der LPG–Mitarbeiter war vorzeitig in Rente geschickt, ein anderer Teil fand Jobs in Rostock, Güstrow und Krakow, andere wurden von ihrem ehemaligen Chef, nach 1989 Bürgermeister seiner Gemeinde, als Ein-Euro-Jobber beschäftigt.
Petra Müller war als Tierärztin Staatsangestellte beim Rat des Kreises und arbeitete so im Auftrag für die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der Uckermark. Ende der achtziger Jahre kaufte die Familie ein Haus am Rande von Gerswalde. 1990 starb ihr Mann. Sie sagt, er, ebenfalls als Amtstierarzt im Kreis beschäftigt, sei an den neuen Verhältnissen zugrunde gegangen. Mit dem Ende der LPGs hat die resolute Tierärztin erlebt, wie viele hundert Mitarbeiter von einem Tag auf den anderen ihren Job verloren:
"Aber da sind die kleinen Leute auch beschissen worden. Die haben ihre Anteile einmal eingebracht. Die meisten, die allermeisten, die ich kenne, haben nicht eine müde Mark gesehen. Das ham sich die Großen dann eingeheimst, die haben wieder geschachert mit andern, und die Kleenen haben Neese gemacht, die haben nüscht gekriegt. Und das ist diese ganze große Ungerechtigkeit, hinten und vorne, wo man guckt."
Die Bauern gingen leer aus
750.000 Bauern der LPGs gingen zum größten Teil leer aus. Die neuen Herren der über 2.800 Nachfolgebetriebe waren überwiegend die LPG-Vorsitzenden. Nicht wenige von ihnen hatten, wie schon zuvor in DDR–Zeiten, die Bilanzen gefälscht. Wozu der Landadel der einst verfemten Junker Jahrhunderte gebraucht hatte, um Reichtum zu erwerben, dazu benötigten die sogenannten "Roten Barone des Ostens" gerade mal zwei Jahre. Seither sind die Bodenpreise von einst 2.000 Euro pro Hektar auf 25.000 explodiert. Das Land im Osten ist zum begehrten Objekt westdeutscher und internationaler Agrarkonzerne mit Flächen bis zu 24.000 Hektar geworden, auf denen zehntausende Schweine und hunderttausende Hühner gehalten werden. Mitglieder in diesen GmbHs sind ehemalige LPG–Genossen oder deren Nachfolger.
Nur in Ausnahmefällen haben sich westdeutsche Investoren für alternative Landwirtschaft entschieden. Inzwischen gibt es gegen den Ausverkauf ostdeutscher Ländereien an Spekulanten und die Zerstörung letzter dörflicher Strukturen allerdings heftigen Widerstand des Netzwerks Bauernhöfe.
Nach dem Ende der LPGs gehörten auch Peter und Elke aus der Nähe von Gerswalde zu den Verlierern.
Morgens um sieben. Peter füttert die Tiere. Er und seine Frau Elke halten auf dem Grundstück ihrer Doppelhaushälfte Enten, Gänse, Hühner, Kaninchen, Schafe und Ziegen. Geheizt wird mit Holz, das Peter auf dem Anhänger seines Mopeds nach Absprache mit dem Förster und gegen Bezahlung aus dem Wald holt. Das Ende der DDR bedeutete für die beiden Tierpfleger den Absturz:
"Oh. Ganz schlechte Zeiten. Erst mal Arbeitslosigkeit. Kinder keine Lehre. Und man musste versuchen, von dem bisschen, was man noch hatte, zu leben. Das ist wie ein Wasserfall auf uns gekommen, von oben runter geprasselt und da musste man sich erst reinfinden. Was wir jetzt machen für'n Ein–Euro–Job, das verdienen andere, die kriegen für eine Stunde 8,50 Euro. Wir kriegen einen Euro. Wir machen aber denselben Dreck. Das finde ich ungerecht. Das ist ja Ausbeutung."
Früher gab es im Dorf von Peter und Elke einen Konsum und eine Kneipe, wo man sich abends traf. Beide haben 1990 dicht gemacht. Und die LPG?
"Hat son Scheißwessi jekooft, hat'n paar wieder injestellt. In Temmen, da, wo der seinen Sitz hat, die arbeiten noch. Sind ja wenig."
Viele erkrankten später schwer
Auch die Kinder von Peter und Elke hatten und haben in dieser entlegenen Region Brandenburgs keine Chance. Die Tochter hat als einzige in Müncheberg zwischendurch Arbeit bekommen. Zwei der Jungen jobben als Leiharbeiter.
"Mein Dritter, der kam mit der ganzen Materie nicht klar, der hat sich umgebracht. Der is ooch von einem Arbeitsamt zu Arbeitsamt, zur Arbeitsstelle. Heutzutage mit Jugendlichen machen sie's so. Da schicken sie hin, da schicken sie hin, da schicken sie hin..."
Ihr Sohn war und ist nicht der Einzige, der sich das Leben genommen hat. Die Zahl der Suizidfälle ist nicht bekannt – aber sie ist hoch, wie auch die Zahl der Menschen, die nach dem Verlust ihrer Arbeit und sozialer Bindungen kurze Zeit später schwer erkrankt und gestorben sind.
Liedermacher Reinhold Andert kennt die Symptome. Nach dem Rauswurf aus der SED war er lange Zeit ohne Arbeit und verfiel in Depressionen.
"Das Schlimmste ist ja nicht, dass jemand Hunger leidet oder kein Dach über dem Kopf hat, das ist ja durch diese Gesellschaft abgefedert, aber das Schlimmste ist das Psychologische, dass einer früh aufwacht und nicht weiß, wie er den Tag zugrunde richtet. Die Gesellschaft sagt: Wir brauchen dich nicht. Du bist ein Almosenempfänger, obwohl er Talente hat und Willen und Wissen und sonst was, nein, er wird nicht gebraucht, wird nicht abgerufen."
Auch Mike ist heute noch wütend. Er gehörte zu den über tausend Mitarbeitern im Betonwerk von Götschendorf. 1990 erwarb ein westdeutscher Unternehmer den Betrieb zu einem Spottpreis. Er entließ 800 Mitarbeiter. Seitdem hat der Betrieb dreimal den Besitzer gewechselt. Einer von ihnen besuchte das Unternehmen dreimal mit dem Hubschrauber, dreimal wurden Subventionen kassiert. Ein Ergebnis der Privatisierung durch die Treuhand, deren Politik gewaltige wirtschaftliche und soziale Folgekosten verursachte.
Für den Maler Alexius Ulaszewski in Heidesee/Bindow in der brandenburgischen Provinz, ist die Sache klar:
"Für mich sind die Wessis die fünfte Besatzungsmacht. Die sind hier einmarschiert, haben sich die Taschen vollgesteckt, haben Betriebe gekauft für eine D-Mark, haben Leute entlassen. Ich weiß von der Treuhand von einem Bekannten, zu ihm sind Wessis gekommen mit Koffer voller Geld und haben Grundstücke gesucht."
Ein Gefühl von Ungerechtigkeit
Und bekommen. Während DDR-Bürger ohne Eigenkapital kaum eine Chance hatten. Auch die Tierärztin Petra Müller hat das Gefühl einer Ungerechtigkeit, das in 25 Jahren Einheit immer noch nicht gewichen ist:
"Die haben - angeblich die Betriebe nichts wert, die waren nichts wert, die haben keine Ökonomie gehabt – abgewickelt, Leute alle auf die Straße, durch die Treuhand verkauft für ein Euro oder eine D-Mark. Ist ja wohl ein Witz. Und wenn sie als Ossi hingegangen sind und haben gesagt: Ich will den Stall haben, brauchste gar nicht erst hingehen und haben's nicht gekriegt."
Petra Müller gehört nicht zu denen, die überfordert waren. Sie setzte sich durch. Sie bekam einen Kredit, verschuldete sich mit 120.000 D-Mark und baute sich eine Tierarztpraxis auf. Auch als Rentnerin ist sie mit siebzig aktiv und gefragt.
Der Betonfacharbeiter Mike hingegen war darauf angewiesen, in einem Industrieunternehmen angestellt zu werden – aber er bekam nie wieder eine dauerhafte Beschäftigung. Wenn das Mikrofon aus ist, schimpft er auf die, wie er sagt, "beschissene Einheit". Dabei hat Mike es noch gut getroffen. Er hat ein eigenes kleines Haus, während der größte Teil seiner ehemaligen Kollegen in den Plattenbauten von Milmersdorf lebt und die Zeit beim Bier mit Fernsehen totschlägt. Hartz–Vierer, wie sie abfällig von denen genannt werden, die noch Arbeit haben. Reinhold Andert:
"Wir können ja nicht so tun als ob's keine Arbeit gäbe. Es gibt genügend Arbeit für alle, aber sie wird nicht bezahlt."
Als besondere Demütigung empfanden viele Ostdeutsche neben der Aneignung von Immobilien und Betrieben die Arroganz der Westdeutschen. Ein Erlebnis ist Heidi Zinn aus Buschdorf bis heute in Erinnerung:
"Also, das erste Mal war ich geschockt, als meine Tochter jemanden aus Westdeutschland kennengelernt hat, und der hat gesagt: Na, Ihr Ossis seid doch sowieso zu faul. Ihr habt doch gar keine Lust zu arbeiten."
Die Stereotype der West- gegenüber den Ostdeutschen sind heute noch zu hören. Hatten sie doch die Ossis in ihren Trabis belächelt. Es waren die armen Verwandten, die offenbar nichts Gescheites zu Wege brachten.
"Für mich ist das, was ich hier mache, für meine Gebäude auf dem Grundstück, für mich ist das Klassenkampf. Ich war nie in der Partei. Es hat mich auch nie interessiert, aber ich lass mir auch vom Wessi nicht alles jefallen, muss ich wirklich sagen."
Alexius Ulaszewski lebt bis heute auf einem Wassergrundstück im brandenburgischen Heidesee an der Dahme. Er hatte als DDR-Bürger an der Hochschule der Künste in Westberlin studiert und nach dem Mauerbau 1961 freiberuflich erfolgreich als Maler, Grafiker und Lyriker in der DDR gearbeitet. In einem umgebauten Bootshaus hat er eine kleine Galerie eingerichtet.
Entschädigung lehnen die Eigentümer ab
Zu DDR–Zeiten hatte der Maler für 55.000 Mark Ost ein Haus gekauft und nach der Einheit von der Gemeinde das früher volkseigene Grundstück für 128.000 DM erworben. Jetzt fühlt er sich durch Rückübertragungsansprüche vertrieben.
Die Erben der Alteigentümerin besitzen 25 Grundstücke, acht davon am Wasser. Ulaszewski hätte kaufen können – für 600.000 D-Mark. Eine gemeinsame Lösung für den Verkauf des Hauses und eine Entschädigung lehnten die Eigentümer ab, sagt Ulaszewski. Eine Erfahrung, die auch viele andere gemacht haben.
"Die Westler sagen immer wieder, was geht uns das an. Von uns kriegen sie kein Geld, und das ist ja das Problem für uns alle. Das betrifft ja noch einige hunderttausend DDR-Bürger, die Häuser auf fremdem Grund haben. Früher nannte man das ja volkseigene Grundstücke, weil die enteignet wurden."
Die Familie Thomas hat, wie viele schon vor langer Zeit, ihre Datsche ohne Entschädigung verloren – wie auch "Keule" Schmittke aus "Clärchens Ballhaus" in Berlin, der noch immer wütend ist.
"Ick hab jebaut vier Jahre am Müggelsee, hamse mir wegjenomm. Jetzt hätt ich dafür 300.000 jekriegt. Ick musst noch Jeld zugeben für mein Eigentum. Eigener Hafen sechs mal sechs Meter. Alles futsch. Sechs Jahre übern Rechtsanwalt. Könn wir abreißen, wolln ja nur das Land, hat die Olle jesagt. Ick hab mein Eintritt in die Freiheit jezahlt. Mir reicht det."
Hoch über dem Grundstück von Eckardt und Heidi Zinn in Buschdorf im Oderbruch hängt weithin sichtbar eine DDR-Fahne, nicht die einzige in den neuen Bundesländern – doch hier demonstrativ als Provokation. Bis 1989 war er Fahrer beim VEB Kraftverkehr. Ab Februar 1990 fuhr er in Berlin auf eigene Rechnung Taxi. Nach dem Umzug in das Oderbruch schaffte er sich einen Siebeneinhalb-Tonner LKW an und ist seither als Fuhrunternehmer unterwegs. Das Ehepaar lebt mit einem gemütlichen Bernhardiner auf einem gepflegten Grundstück mit Blumenbeeten und gemütlicher Sitzecke. Das Haus schmuck und gemütlich eingerichtet. Doch die Idylle trügt. Die Zinns leben seit Jahren in ständiger Angst um ihre Existenz. Nachdem unter anderem die Post ihm Aufträge weggenommen und an Billiganbieter in Polen vergeben hat, gehen die Geschäfte schlecht.
Heidi Zinn, in der DDR Bibliothekarin, bekam nach 1990 zweimal eine ABM-Stelle - danach war Schluss. Seit 2005 verdient sie als Selbstständige etwas Geld in der Altenpflege. Beide sagen: Es reiche gerade. Eckardt Zinn empört sich:
"Dass manchen Leuten hinten und vorne alles hinten rein gesteckt wird, dass große Unterschiede gemacht werden und solche Leute wie wir, Kleinunternehmer oder Einzelkämpfer, abgezockt werden. Uns bleibt manchmal weniger als Hartz 4, trotz der Selbstständigkeit."
25 Jahre deutsche Einheit, und die DDR–Fahne hängt über ihrem Grundstück.
"Warum die da hängt? Aus Protest gegen die Bundesrepublik, damit wir mit den Verhältnissen der Bundesrepublik nicht zufrieden sind. Haben wir die einfach aufgehängt. Natürlich in der DDR war auch nicht alles gut. In welcher Gesellschaftsordnung ist alles gut. Ich würde die DDR vorziehen. Ich hatte weder mit der Stasi, wie immer gesagt wird, oder Polizei oder sonst was zu tun. Und wer sich da eingefügt hat oder vernünftig gelebt hat, ohne aufzumucken, der hat auch seine Ruhe gehabt. Damals. So war das doch. Oder nicht?"
Die DDR ist unwiederbringlich Vergangenheit
Die Zinns widersprechen sich. Eigentlich wollen sie die DDR nicht zurück. Auf der anderen Seite vermissen sie die trügerische Geborgenheit eines Systems, das seine Bürger systematisch eingeengt, mit Parolen mundtot gemacht und ihrer Rechte beraubt hatte.
Die Zinns, die Eheleute Thomas, Alexius Ulaszewski, Petra Müller, Reinhold Andert, Mike, Volker und Elke, – sie alle wissen: die DDR ist unwiederbringlich Vergangenheit. Ihre Wut über die Folgen einer Kahlschlagsanierung von DDR-Betrieben, bei der westliche Kapitalinteressen bedient wurden, dauert bis heute an. Gewiss eine einseitige Wahrnehmung, aber sie hat Gründe. Ein stärkerer Schutz ostdeutscher wirtschaftlicher Eigeninteressen durch die Politik wäre möglich gewesen – auch ein anderer Umgang von West- mit Ostdeutschen.
Was bleibt? Man hat sich arrangiert. Ist wirtschaftlich trotz allem ganz gut abgesichert, profitiert vom unbegrenzten Warenangebot, ruckelt nicht mehr im Trabant oder Wartburg über holprige Straßen, kann reisen. Auch in entlegenen Regionen wie der Uckermark, der Heimat von Angela Merkel, ist der Wandel zu sehen und zu erleben. Straßen wurden gebaut, Telefonleitungen verlegt, Häuser, Dörfer, Städte saniert, Umweltschäden apokalyptischer Dimension beseitigt. Städte wie Templin, Prenzlau, Angermünde, Orte wie Joachimsthal oder Boitzenburger Land sind saniert worden und haben an Attraktivität gewonnen.
Die Thomas sind sozial engagiert und veranstalten Gemeindefeste. Alexius Ulaszewski hat das Grundstück an der Dahme aufgegeben und zieht nach Berlin. Reinhold Andert schreibt historische Bücher und begleitet seine Frau, eine international gefragte Cellistin, auf ihren Reisen in alle Welt. Dennoch gilt für alle eine Erkenntnis des Hallenser Psychotherapeuten Hans Joachim Maaz:
"Wem bitteres Unrecht angetan wurde, wer Demütigung und Kränkung hat hinnehmen müssen, ist nach natürlichen Gesetzen voll aggressiver und schmerzlicher Gefühle."
"Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört."
Was Willy Brandt im November 1989 prophezeite, ließ sich auf staatlicher Ebene leichter vollziehen als auf gesellschaftlicher.
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