Zygmunt Bauman: "Die Angst vor den anderen"

Wir müssen lernen zu teilen

Eine Frau und ihre Tochter schützen sich unter einer Decke auf dem Flüchtlingsrettungsschiff Aquarius, das sie vor der Küste Libyens aufgegriffen hat.
Eine Frau und ihre Tochter schützen sich unter einer Decke auf dem Flüchtlingsrettungsschiff Aquarius, das sie vor der Küste Libyens aufgegriffen hat. © AFP / Gabriel Bouys
Von Michael Opitz · 14.09.2016
Auch wenn die Integration von Flüchtlingen nicht leicht wird, kommen wir um diesen dornigen Weg nicht herum. Das schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Essayband "Die Angst vor den anderen". Denn andernfalls brechen wir mit allen christlichen und moralischen Grundsätzen.
Zygmunt Baumans Essay kommt zur rechten Zeit, denn über kein anderes Thema wird gegenwärtig weltweit so energisch und erbittert gestritten wie über Migration. Wie ernst Bauman die Lage einschätzt wird deutlich, wenn es bei ihm nicht heißt: "Wir schaffen das!", sondern er zugespitzter formuliert: Wir "müssen" das schaffen!
Natürlich weiß der 1925 geborene Soziologe, dass es gegenwärtig die einfachen Vorschläge sind, die Konjunktur haben, etwa die Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge. Vorschläge, mit denen sich wahrscheinlich Wahlen einfacher gewinnen lassen, als mit dem Hinweis, dass es ein "dorniger" Weg werden wird, um die Flüchtlinge zu integrieren. Aber unter moralischem Aspekt bleibt gar keine andere Möglichkeit.
Nicht Zurückweisung kann, wie es schon Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" formuliert hat, die Lösung sein, sondern allein "Hospitalität (Wirtbarkeit)". Für Bauman, der sich auf Kant bezieht, ist Migration in erster Linie eine moralisch-ethische Herausforderung.

Armut, Elend und Verachtung in vermeintlich reichen Ländern

Bevor er aber auf die Frage der Menschlichkeit eingeht, erinnert Bauman an die Ursachen des gegenwärtigen Flüchtlingsdramas. Aufgrund von "fatalen Fehlurteilen" und "verhängnisvollen militärischen Interventionen", angesichts von Krisen, an denen die Rüstungsindustrie verdient, blieb vielen Menschen gar keine andere Wahl, als vor der entfesselten Gewalt in ihren Heimatländern zu fliehen.
Dabei ist der Lebensstandard, nach dem sie sich sehnen, in den Ländern, in die sie kommen, alles andere als gesichert. Armut, Elend und Verachtung gehören inzwischen in den vermeintlich reichen Ländern zum Alltag. Und gerade die, die gezwungen sind, am unteren Rand der Gesellschaft zu existieren, sehen sich als erste mit den Flüchtlingen konfrontiert, die sie als Bedrohung wahrnehmen.
Eine Ursache für den in den europäischen Ländern sich verstärkenden Fremdenhass sieht Bauman darin, dass wir eine Gabelung bereits erreicht haben, "wobei der eine Weg zu kollektivem Wohlergehen, der andere zur kollektiven Auslöschung führt".
Dass wir lernen müssen zu teilen, bedeutet eben nicht, denen etwas zu nehmen, die bereits heute mehr benötigen.

Die Fremden vor der Tür sind erst der Anfang

Bauman fordert ein politisches Umdenken. Die Herausforderung, vor der wir stehen – und dies macht der Soziologe unmissverständlich deutlich –, hat mit den Fremden, die vor Europas Türen stehen, erst begonnen. Sie sind die Boten einer Krise, die weltweit gelöst werden muss.
Wenn Menschen, die in Not sind, an Europas Grenzen weiterhin abgewiesen werden, dann werden wissentlich Lager in Kauf genommen, die errichtet werden, um unerwünschte Menschen "zu parken". In dem Moment, wo akzeptiert wird, dass es einen "Rest" gibt, der nicht dazugehören soll, wird mit allen christlichen und moralischen Grundsätzen gebrochen.
In der Ernsthaftigkeit und in der Radikalität, mit der Zygmunt Bauman die Frage der Migration diskutiert, sucht dieses Buch seines gleichen. Es ist das Buch der Stunde, das hoffentlich über den Tag hinaus wirkt.

Zygmunt Bauman: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
124 Seiten, 12 Euro

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