Zwitschernde Tempeltreppen

Von Ralf Krauter · 19.12.2010
Die vor 1000 Jahren erbauten Maya-Pyramiden von Chichen Itza sind eine der meist besuchten Touristenattraktionen der mexikanischen Halbinsel Yucatan. Das Vermächtnis der Architekten ist bis heute sichtbar – und hörbar.
Wer im Hochland Mittelamerikas unterwegs ist, kann ihn mit etwas Glück hören: Den Ruf des Quetzals, des Wappentieres von Guatemala. Der grüne Vogel mit den langen Schwanzfedern und der scharlachroten Brust ist in den Nebelwäldern von Guatemala, Mexiko, Honduras und Costa Rica heimisch. Das heiße, trockene Klima der mexikanischen Halbinsel Yucatan verträgt er nicht. Und trotzdem kann man den Quetzal auch dort hören. Zumindest, wenn man beim Besuch der Maya-Ruinen von Chichen Itza die Ohren spitzt und am rechten Ort in die Hände klatscht.

Der kalifornische Akustik-Experte David Lubman war schon ein halbes Dutzend Mal in Chichen Itza. Und jedes Mal stellte er sich wieder auf den Rasen, vor eine der vier Treppen der imposanten Kukulkan-Pyramide. 91 Stufen hat jede dieser Treppen. 91 mal vier ergibt 364. Addiert man die Sockelstufe erhält man die Zahl der Tage eines Sonnenjahres. Doch solche Zahlenmystik interessiert David Lubman nur am Rand. Er hat stets ein Mikrofon im Gepäck und nimmt das Geräusch auf, das die steilen Stufen zurückwerfen, wenn man davor in die Hände klatscht.

"Ich hatte am Ende einer Versuchsreihe oft ganz rote Hände vom Klatschen. Aber das Ergebnis war immer dasselbe: Das von den Stufen in seine Frequenzen zerlegte Echo ist ein zwitscherndes Geräusch. Sein Klang ist dem Ruf des Quetzals unheimlich ähnlich. Den Mayas war dieser Vogel heilig. Sie glaubten, er sei ein Botschafter der Götter."

Das farbige Frequenzbild vom Klatsch-Echo der Kukulkan-Pyramide sieht dem des Quetzalrufes in der Tat verblüffend ähnlich: Ein hohes Geräusch, dass dann rasch abfällt und ausklingt. Der direkte Vergleich macht die akustische Analogie hörbar.

David Lubman ist überzeugt, dass die Maya-Architekten die Pyramide mit Absicht so konstruierten, dass sie den Ruf des Quetzals imitiert. Bei einer religiösen Zeremonie hätte ein Priester nur in die Hände klatschen müssen, um dem Volk den Götterboten ins Gedächtnis zu rufen. Der Kukulkan-Tempel in Chichen Itza - eine in Stein gehauene Tonaufnahme aus grauer Vorzeit? Als David Lubman diese These 1998 erstmals öffentlich vertrat, stieß er auf Ablehnung.

"Die Archäologen hielten zunächst gar nichts davon. Sie hielten es für absurd, zu glauben, dass die Maya das nötige Wissen hatten."

Doch David Lubman nahm seinen Kritikern nach und nach den Wind aus den Segeln. Der Einwand zum Beispiel, das Zwitscher-Echo sei ein Effekt, der durch die Rekonstruktion der Treppen hervorgerufen wurde, ist nach Messungen an den nicht rekonstruierten Tempelstufen vom Tisch.

Sein bestes Argument aber ist ein anderes: David Lubman hat in Chichen Itza weitere Beispiele von "Ton-Architektur" entdeckt. Eine Flüstergalerie etwa, die es ermöglicht, zwischen zwei Tempeln zu kommunizieren. Und dann wäre da noch der Ballspielplatz, wo die Mayas einst eine Art rituelles Handball mit schweren Kautschukbällen spielten, bei dem wohl auch manchmal Köpfe rollten. Zwei acht Meter hohe Steinmauern begrenzen die 145 Meter lange Rasenfläche.

"In der Mitte des Spielfeldes ruft Klatschen ein flatterndes Echo hervor, das dem Gebrüll eines Jaguars ähnelt. Diese Raubkatzen verehrten die Mayas ebenfalls, wie zahlreiche Skulpturen und Gemälde in Chichen Itza belegen."

Aber könnten die mysteriösen Geräuscheffekte nicht einfach nur zufällig entstanden sein?

"Theoretisch könnte es Zufall sein. Aber dass am selben Ort bei verschiedenen Bauwerken zufällig so bemerkenswerte akustische Effekte entstehen, ist sehr unwahrscheinlich. Viel plausibler ist, dass Absicht dahinter steckt."

Will heißen: Die Maya-Architekten vor über 1000 Jahren waren vermutlich die ersten Sound-Designer auf dem Planeten. Wasserdicht beweisen lässt sich das aber wohl nie. Die Maya-Expertin Lisa Lucero, Anthropologie-Professorin an der US-Universität Illinois bleibt deshalb vorsichtig. Gegenüber der Zeitung "USA Today" kommentierte sie kürzlich:

"Solange wir keine Inschrift finden, die besagt, dass die Mayas wussten, 'Klatschen bedeutet Vogelzwitschern', wissen wir einfach nicht, ob die Theorie vom absichtlich in Stein gemeißelten Ruf des Quetzals korrekt ist."

Wenn David Lubman aber Recht hat, dann wäre die Kukulkan-Pyramide in Chichen Itza die älteste Tonkonserve aller Zeiten – und müsste wohl in die Liste der Weltwunder aufgenommen werden.