Zwischen Wahn und Kalkül

Von Bernhard Doppler |
Die politische Klugheit und das soziale Mitleid, der Wahn und das kühle Kalkül - Regisseurin Andrea Breth thematisiert in ihrer Inszenierung von Dostojewskis "Verbrechen und Strafen" die Gespaltenheit des modernen Menschen. Mit schnellen Schnitten und Bühnenwechseln gelingt es ihr, die Grenzen zwischen Surrealem und der vermeintlich realen Welt zu verweben: eine gelungene Eröffnungsinszenierung der Salzburger Festspiele.
Wie unterschiedlich die Regiehandschriften von Frank Castorf, Nikolaus Stemann oder Krystian Lupa auch sein mögen, immer wieder verblüfft, wie eng sich doch die Bühnenadaptionen der letzten Jahre an Wortlaut und Dramaturgie der tausend Seiten schweren Romane Dostojewskis halten! Auch wie wenig ironisch sie sich zu ihnen verhalten - selbst nicht zu den theologischen, oder zumindest metaphysischen Fragen, um die Dostojewskis eineinhalb Jahrhunderte alte Romane kreisen. Einen Bilderbogen aus dem zaristischen Russland bieten alle diese neuen Adaptionen ja nicht: Dostojewski ist auf dem deutschen Theater Zeitgenosse, mehr noch vielleicht als der eine Generation jüngere Tschechow!

Das gilt natürlich auch für Andrea Breth - die metaphysische Dimension sichtbar zu machen, ist bei ihr ja ohnehin selbstverständlich. Vorgeführt wird in "Verbrechen und Strafe" - so im Gegensatz zu dem im Deutschen geläufigen Titel "Schuld und Sühne" die wörtliche Übersetzung des russischen Titels - ein Selbstexperiment: Der Jurastudent Raskolnikov erprobt an sich selbst, ob er ein Ausnahmemensch sei, der eines höheren Ziels wegen - der Verbesserung einer als unerträglich erkannten Lage - auch einen Mord auf sich nehmen müsse, oder ob er doch nur ein Alltagsmensch, ein "Laus", wie die meisten, sei.

Dass Andrea Breth sich bei ihrer Inszenierung dabei - wie Castorf, Stemann, Lupa - auf eine eigene Fassung stützte und die ursprünglich von den Festspielen vorgesehene des bulgarischen Schriftstellers Dimitre Dinev ablehnte, leuchtet ein, entwickelte sie doch für den fünfstündigen Abend eine ganz eigene suggestive Ästhetik, die keiner Zwischeninstanz zwischen ihr und Dostojewki bedarf.

Auf der oft vollkommen leeren Bühne von Erich Wonder werden theatralische Buch-Illustrationen - in der Regel aus der Sicht des nahe an Wahnvorstellungen operierenden Raskolnikov - komponiert und choreografiert: Schnelle plötzliche Auftritte, auf sich mehrfach wiederholende Gesten reduzierte Karikaturen. Man ist fast ein wenig an die Gestensprache von Michael Thalheimer erinnert.

Aber es gibt auch segmentierte Wahrnehmung - hinter Häusermauern - wenn eine schwarze Wand nur winzige Fenster- und Türöffnungen freigibt. Schon allein, wie in unglaublicher Geschwindigkeit und Präzision die elf Schauspieler und Bühnenarbeiter, sie nahmen bei der Premiere verdienten Extraapplaus entgegen, die vielen sekundenschnellen Cuts zwischen den einzelnen Illustrationen zaubern, ist bewundernswert. Und das fünf Stunden lang!

Viele der surrealen Bilder - ein Höhepunkt, das durch Verleumdungen gestörte Totenmahl von Sonjas Vater - brennen sich nachdrücklich ein, und insbesondere Wolfgang Michael als Hofrat Luschin führt souverän Breths karikierende Gestensprache vor. Aber es gibt auch die großen Dialoge und Streitgespräche des Romans, bei denen insbesondere Udo Samel als Ermittlungsrichter und Sven-Eric Bechtolf als Lebemann, in gewisser Weise Spiegelbilder Raskolnikovs, sehr komödiantisch agierend beeindrucken. Salzburg kann auch im Schauspiel große Namen an sich ziehen!

Und natürlich: Jens Harzer als Raskolnikov. Man könnte sich fragen, ob er im Laufe des fünfstündigen Abends eine Entwicklung durchmacht. Aber sind die zwei Wochen zwischen Mordplan und Verhaftung Raskolnikovs in Dostojewskis Roman wirklich Entwicklung? In Jens Harzers gespenstischer Präsenz scheint immer schon alles lauernd angelegt, in kurzem Auflachen, in Haltungen des Zuhörens und Sich-Einmischens, oder im Bett verkrümmt liegend: der Wahn und das kühle Kalkül, die politische Klugheit und das soziale Mitleid, der expressive Wunsch, endlich "allein sein" zu können und das Selbst zerstörende Verlangen, mehr als eine Laus sein zu wollen - und genauso auch die Angst vor Einsamkeit.