Zwischen utopischen Glücksvorstellungen und grauer Wirklichkeit

Rezensiert von Martin Sander · 03.08.2006
Vom Kaiserreich bis hin zur Zerstörung der Stadt erzählt Waldemar Nocny in "Inseln im Strom" über fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte in Danzig. Anhand von Alltagsschicksalen präsentiert der Historiker und ehemalige stellvertretende Bürgermeister Danzigs eine literarische Chronik seiner Heimatstadt.
In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren haben polnische Autoren die deutsche Vergangenheit im Westen und Norden ihres Landes für sich entdeckt. Sie haben so mit einem Tabu des kommunistischen Polen gebrochen, in dem diese Vergangenheit vor allem aus weißen Flecken bestand. Immer wieder stand die Stadt Danzig im Zentrum des neu erwachten literarischen Interesses.

Autoren wie Paweł Huelle oder Stefan Chwin haben dabei nicht nur ein neues Kapitel polnischer Gegenwartsliteratur aufgeschlagen, sondern auch in Deutschland besondere Aufmerksamkeit erregt. Wer heute als polnischer Autor über Danzig schreibt, muss sich, ob er will oder nicht, an Huelle und Chwin messen lassen.

Unter dem Titel "Insel im Strom" ist nun im Bremer Atlantik Verlag eine literarische Chronik in deutscher Übersetzung erschienen, die der Danziger Autor Waldemar Nocny 1999 im polnischen Original vorgelegt hat. Nocnys Chronik umfasst die letzten fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte in Danzig.

Vom Kaiserreich über die freie, unter Verwaltung des Völkerbunds stehende Stadt zwischen den Weltkriegen, bis hin zu Flucht und Zerstörung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zeichnet der Autor eine Vielzahl von Alltagsschicksalen in einer Gesellschaft nach, die sich ihrer traditionellen Werte zunehmend entledigt, um sich dafür dem Nationalsozialismus zu verschreiben.

Auf der Insel Bohnsack, einer an der Ostsee liegenden Vorstadt von Danzig, die heute Sobieszewo heißt, porträtiert der Autor Bauern und Beamte, Fischer und Geistliche zwischen utopischen Glücksvorstellungen und grauer Wirklichkeit, geprägt von Armut, Gewalt, und familiärem Unglück.

Waldemar Nocny schreibt über eine Welt, die bereits vor seiner Geburt verschwand. Der Autor wurde 1951 in Sobieszewo geboren. Er studierte Geschichte an der Universität Danzig, trat durch zahlreiche vorwiegend historische Beiträge hervor und arbeitete bis zum Dezember 2005 als Vizepräsident der Stadt Danzig, verantwortlich für Bildung, Sport, Gesundheit und Sozialhilfe.

Nocny erzählt außerordentlich differenziert von der deutschen Geschichte und vielfältigen politischen Verwicklungen unter den Protagonisten seines Heimatorts. Das muss man seiner Chronik zugestehen. Leider ist bei alledem kein großer literarischer Wurf zu erkennen.

Die allzu detailreichen Bilder fügen sich zu einem unscharfen Panorama. Immer wieder drängt sich der Eindruck eines publizistisch-politischen Thesenromans auf. Sprachlich zwar um Kraft und Einfachheit bemüht, wirkt vieles gleichwohl gewollt und stereotyp. Zu oft wechselt der Autor ins derb Obszöne und mündet ins Peinliche. So bietet diese Prosa von Waldemar Nocny, anders als die eines Paweł Huelle oder Stefan Chwin, zwar ein politisch annehmbares, aber dennoch ein etwas quälendes Lektüreerlebnis. Kein wirklich gutes Buch, wenn auch ein gut gemeintes.

Waldemar Nocny: Insel im Strom
Aus dem Polnischen von Ludwig Kozlowski.
In literarischer Bearbeitung von Hella Streicher
Atlantik Verlag, Bremen
349 Seiten, 19,80 Euro