Zwischen Tugend und Exzess

Er ist einer der großen, sprachmächtigen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Seine berühmten Romane "Die Strudlhofstiege" oder "Die Dämonen" schrieb er in den 1950er-Jahren. Heimito von Doderer verbrachte fast sein ganzes Leben in Wien, dort wird sein Nachlass betreut und dort wurden zwei frühe, bislang unveröffentlichte Erzählungen entdeckt.
"Werde dir selbst erst befremdlich – und bald wird nichts mehr dir fremd sein" - notiert Heimito von Doderer einmal unter dem Stichwort "Menschenerkenntnis", und in sein Tagebuch schreibt der 55-Jährige 1951: "Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich und wirklich haben möchte und mir wünschte: so wäre es – viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endgültig unterzugehen. Statt dessen habe ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt."

Zwischen Tugend und Exzess bewegt sich dieser Schriftsteller offenbar von Anfang an. In dem klugen und informativen Nachwort des neuen Erzählungen-Bandes erfährt man, dass der Mitzwanziger sich jedenfalls in eben solcher Lage befindet, als er sich mit dem Leben des Franz von Assisi zu beschäftigen beginnt. In ihm sieht der angehende Autor, der erst sehr viel später zum Katholizismus konvertieren wird, einen Seelenverwandten: In der Biografie des Gottesmannes spiegelt er das eigene Hin- und Hergerissensein, die eigenen Unfähigkeiten in der vollkommenen Askese und Nächstenliebe. Doderer, der studierte Historiker, setzt auf die Originalquellen und entwirft ein berührendes und leidenschaftliches Porträt des Heiligen als entschiedenen Wohlleben-Verweigerers. Mit 700 Jahren Abstand spürt er nicht nur einer fremden Existenz nach, sondern übt sich damit in einer literarischen Form, der er eine musikalische Struktur gibt. Aber die beiden Erzählungen, die Doderer nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft 1920 zu schreiben beginnt, sind nicht nur als literarische Stilübungen und autobiographische Verknüpfungstexte interessant. Die zweite Erzählung "Montefal" ist eine frühe Version seines Ritter-Romans "Das letzte Abenteuer". Wenn man diese erste Erzählung mit der späteren - 1936 geschriebenen, 1953 veröffentlichten - Fassung vergleicht, kann man nicht nur eine besondere literarische Motivgeschichte betreiben, vor allem begreift man, wie sich auch im Leben eines großen Autors mit den Jahren die Einsichten und die Haltungen verändern. Man verfolgt die Metamorphose eines urtümlichen in einen modernen Drachen: War das Untier dem jungen Autor noch böse und gefährlich, damit also konventionell erschienen, wird es dem älteren zum traurigen Symbol einer dem Untergang geweihten Welt.

Nebenbei kann man in dieser "Montefal"-Geschichte auch lesen, was damals wie heute gilt, dass der zaudernde Mann, der sich zwischen der Liebe und dem Abenteuer nicht entscheiden kann, am Ende ein ewiger Verlierer ist.

Rezensiert von Manuela Reichart

Heimito von Doderer: Seraphica Montefal. Erzählungen aus dem Nachlass
Herausgegeben von Martin Brinkmann und Gerald Sommer
Nachwort von M. Brinkmann
C. H. Beck Verlag, München 2009
111 Seiten, 17,40 Euro