Zwischen politischer Willkür und Schicksal

Rezensiert von Martin Sander · 19.06.2006
Vladimir Vertlib zeichnet in "Mein erster Mörder" das Leben von Menschen nach, die, durch die NS-Zeit bedingt, zwischen politischer Willkür und schicksalhaften Gegebenheiten ihre Würde zu bewahren versuchen. Vertlib zeigt sich hier als Meister jenes Genres der literarischen Reportage, die das wahre Leben bis in alle Verästelungen der Zeitgeschichte und bis ins feinste sprachliche Detail aufscheinen lässt.
Der Mörder hat den Erzähler zum Essen eingeladen. Streng genommen ist der Mörder nur ein Totschläger und außerdem ein mehr oder minder biederer Familienvater, der zwar auf eine ziemlich belanglose Beleidigung hin seinem Widersacher einen Pfeifenstiel durchs Auge ins Gehirn gerammt hat, dann aber seine Haft vorbildlich absolviert und schließlich wieder in sein Kleinbürgertum eintaucht.

Als Motiv für die Gewalttat enthüllt er dem aufmerksamen Gast eine Lebensgeschichte, die in der Wiener Unterschicht wurzelt und entscheidende Impulse im Mief der fünfziger Jahre empfängt. Der proletarische Vater, ein Trinker und überaus prinzipienarmer Mitläufer aller Zeitläufe, war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs an einem Massenmord an ungarischen Juden beteiligt und macht daraus ein tendenziell offenes Familiengeheimnis. Der Sohn begibt sich in Wien auf die Fährte der allseits verdrängten Nazi-Vergangenheit und sucht allen sozialen Demütigungen zum Trotz seinen Weg in die etwas besseren Kreise.

Der Band "Mein erster Mörder" von Vladimir Vertlib, der außer der Titelerzählung noch zwei weitere "Lebensgeschichten" enthält, ist jetzt bei Deuticke im Zsolnay Verlag erschienen. Vertlib, den man als Romanautor kennt, zeigt sich hier als Meister jenes Genres der literarischen Reportage, die das wahre Leben bis in alle Verästelungen der Zeitgeschichte und bis ins feinste sprachliche Detail aufscheinen lässt. Der Reporter und Ich-Erzähler lässt seine Protagonisten sprechen. Ihre ungeschliffene, witzige und nicht selten skurrile Erzählung entblößt den banalen menschlichen Alltag in der Dramaturgie des 20. Jahrhunderts.

In der Geschichte "Ein schöner Bastard" erzählt eine Frau mit viel Situationskomik vom Schicksal ihrer deutsch-jüdisch-tschechischen Familie, von gescheiterten sozialistischen Idealen, Rückzügen ins Private, Anbiederung an den Nationalsozialismus und dem Aufbegehren gegen die ihnen von den jeweiligen Mächten auferlegte Identitäten. "Nach dem Endsieg" heißt die dritte und letzte Geschichte: Zwei Jugendfreunde lassen aus der Distanz von Jahrzehnten ihre abenteuerliche Flucht aus dem Dritten Reich Revue passieren.

Der deutschsprachige Erzähler Vladimir Vertlib wurde 1966 im damaligen Leningrad geboren. 1971 verließ er mit seinen Eltern die Sowjetunion, lebte in Israel, den Vereinigten Staaten und ist seit 1981 in Österreich ansässig. Mit seinen zwischen wahrem Leben und literarischer Fiktion angesiedelten Protagonisten, oft Außenseitern und nicht selten skurrilen, kauzigen Typen, dringt Vertlib in zentrale Regionen der jüngeren europäischen Geschichte vor, Regionen, die sich - aller historischen Diskurse und literarischen Bearbeitungen - zum Trotz stets aufs Neue als weiße Flecken erweisen. Vertlib füllt sie auf seine Art mit Leben und erweist sich dabei gleichermaßen als versierter Reporter und begnadeter Erzähler.


Vladimir Vertlib:
Mein erster Mörder. Lebensgeschichten,

Deuticke im Paul Zsolnay Verlag,
253 S.; 19,90 Euro.