Zwischen poetischer Empfindsamkeit und politischer Vernunft

Von Kersten Knipp |
Die Gedanken sind frei, heißt es - aber wie frei dürfen sie sein, oder sollen sie sein? Und wo mündet Freiheit in Verantwortungslosigkeit? Viele Fragen, denen sich die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität in einer Vorlesungsreihe stellt, die wohl nirgends so aktuell ist wie derzeit eben in Düsseldorf. Die Stadt hat ihren handfesten Skandal um die Verleihung des Heine-Preises an Handke, von dem der Dichter selbst wieder zurückgetreten war.
Zu platt war die Reaktion der Jury, zu banal ihr Geständnis, die Werke des umstrittenen Dichters nicht einmal gelesen zu haben. All dies im Namen des guten Gewissens? Wie weit darf sie gehen, die eigene Nachlässigkeit und Lesefaulheit im Namen des guten Gewissens? Der Düsseldorfer Soziologe Alfons Labisch, Mitinitiator der Veranstaltung, wirf den Jury-Mitgliedern vor, es sich mit dem Urteil recht leicht gemacht zu haben – vor allem darum, weil die Situation im ehemaligen Jugoslawien bis heute eindeutige Grenzziehungen nicht erlaube.

"Wenn wir uns darauf geeinigt haben, hier im Norden, es gibt ein Volk, das schuldig ist, dann gilt das dort unten schlicht und ergreifend offenbar nicht. Und wir haben einen Künstler geehrt, der eben eine bestimmte Wirklichkeit konstruiert. Das ist nicht diejenige, die der politischen Korrektness entspricht."

Um die Folgen dieses Dissens' zu diskutieren, hatte die Heinrich-Heine-Universität den Germanisten Karlheinz Bohrer eingeladen, der den Jugoslawien-Einsatz einst als berechtigt sah. Der aber sprach über das Thema, das sich die Düsseldorfer Vorlesungsreihe ursprünglich, noch vor dem Skandal, vorgenommen hatte: den Stil. "Stil als Provokation. Paradigmen eines emphatischen Begriffs" nannte er seinen Vortrag, und wer bei dem Begriff "Provokation" an Handke dachte, der lag gründlich daneben. Der jüngste Autor, den Bohrer nannte, war Harold Pinter. Zu Handke mochte er sich nur widerstreben äußern, zum Schluss, als er vom Publikum danach gefragt wurde.

"Ich habe auch eigentlich keine Lust, zu dieser Schildbürgerei hier in Düsseldorf was zu sagen. Das ist ja zumindest formal alles daneben gelaufen. Wie kann man eine Satzung haben, die ermöglicht, nachdem ein Preis ausgesprochen worden ist, ihn dann wieder zurückzunehmen. Das ist einfach grotesk. Das kann man gar nicht nachvollziehen."

Und doch: Was ist nun mit Handke? Wie muss man umgehen mit einem, der politisch heikle Dinge äußert und gleichzeitig Dichter ist? Hat der, wollte das Publikum wissen, ein Anrecht, anders verstanden oder behandelt zu werden als einer, dem die Worte nicht so leicht von der Hand gehen?

"Die Antwort ist doch ganz logisch. Was ist denn hier die Logik? Die Logik ist doch, dass ich ihn nur nach seinem Stil beurteile und nicht danach, was er für idiotische Ansichten hat."

Handke als politischen Denker kann das entwerten. Den Dichter allerdings nicht. Scharf zog Bohrer eine Linie zwischen dem Bürger und dem Künstler, verzieh dem Schriftsteller, was er dem politischen Denker ankreidete. Denn den, antwortete er dem Publikum, muss man kritisieren.

"Selbstverständlich, und wie! Aber wissen Sie, das hat nichts damit zu tun, wie ich über Handke als Künstler rede, sondern über ihn als sozusagen politisch irrenden oder phantasierenden Künstler, der sich von seiner Phantasie zu einer nicht-akzeptierbaren, nicht zu einem Gemeinsamkeitsurteil passenden Position hat führen lassen, die nicht zu dem passt, worauf sich diese Demokratie oder der Westen geeinigt hat – diese Position ist nicht akzeptabel, mehr können Sie nicht sagen."

Scharf zog Bohrer die Linie zwischen poetischer Empfindsamkeit und politischer Vernunft. Beides sind Tugenden, aber sie müssen nicht immer zusammengehen. Das Bild des Dichters als Sendboten höherer Vernunft verwies er ins Reich des Mythos.

"Ich meine, das sind so Ammenmärchen, die Günter Grass von sich gegeben hat, das ist richtig. Aber ein Autor, ein Schriftsteller, ein Künstler hat sein eigenes Recht, sehr eigentümliche, besondere Ansichten zu haben – was allerdings, und da muss ich jetzt doch einen Zusatz machen, nicht heißt, dass selbstverständlich eine künstlerische Perspektivierung, eine sagen wir mal imaginativere Ansicht der Dinge, die aus dem Werk kommt, uns nicht, die wir als Realisten oder als Politiker oder als Pragmatiker Dinge sehen, uns plötzlich die Dinge in einem neuen Licht sehen lassen. Dass Sie mich nicht missverstehen, dass ich jetzt hier behauptet hätte, na ja, Künstler sollen ihre Kunst machen, im Übrigen brauchen wir gar nicht auf sie zu hören. Das meine ich damit nicht."

Handke dürfte es freuen. Politisch mag er weiterhin Fragwürdiges verbreiten. Seinem Ruhm als Dichter tut das keinen Abbruch. Und so wird man ihn auch in Zukunft lesen. Die Sprache der Politik ist eben nicht die des Herzens, und auch in Düsseldorf wurden sie an diesem Abend streng auseinander dividiert. Noch fragwürdiger als ein missliches Dichterwort aber, auch das wurde an diesem Abend deutlich, ist eine schlecht besetzte Jury.