Zwischen Optimismus und Maschinenkult

Von Thomas Migge · 19.01.2009
Das Museum für moderne Kunst im norditalienischen Rovereto sucht nach Verbindungslinien zwischen Kunstbewegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Futurismus, der Kubimus, die russische revolutionäre Kunst und der Blaue Reiter. Allen ist gleich, dass sie nach einer neuen Formensprache und einer Revolution der Kunst strebten.
"Geschwindigkeit eines Autos" heißt das Gemälde von Giacomo Balla. Ein Auto ist nicht zu sehen, dafür aber Farbwellen, die eine abstrakte Umformung der von einem fahrenden Auto ausgelösten Bewegungen während großer Geschwindigkeit sind: Kreise und Halbkreise, die wie schnell aufeinander folgend dargestellt sind.

Georges Braques "Frau mit Mandoline" stellt auch keine Frau dar, sondern eckige, quadratische und rechteckige Formen und Striche, die eine sehr vage Vorstellung eines menschlichen Körpers geben.

Auf Wassily Kandiskys Bild "Allerheiligen II" sind zwar, mehr oder weniger, menschliche Figuren erkennbar, doch die Bildkomposition wird durch runde Formen dominiert, in denen sich angedeutete Personen befinden oder genauer: von den runden Formen mitgerissen werden, wie bei einem sich kreisenden Karussell. Was haben Balla, Braques und Kandinsky gemein? Außer der Tatsache, dass sie diese Werke um das Jahr 1910 schufen?

""Die Ausstellung entstand aufgrund der Idee, dass es Beziehungen gibt zwischen Kunstformen, die alle ungefähr in der gleichen Zeit in Europa entstanden sind und dass diese Beziehungen noch nie so recht in ein gemeinsames Licht gerückt wurden. Der Kubismus eines Braques, der Futurismus von Balla und 'Der blaue Reiter', eine Bewegung, der Kandinsky angehörte, aber auch der aus Kubismus, Futurismus und volkstümlicher Kunst entwickelte russische Kubofuturismus ähnelten sich in ihrer ikonographischen Sprache. Diese Zusammenhänge darzustellen: das will diese Kunstschau"."

Ester Coen ist Kuratorin dieser Kunstschau im norditalienischen Rovereto, wo sich das Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto, kurz MART genannt, einen Namen für spannende Ausstellungen gemacht hat. Es ist sicherlich nicht übertrieben, das MART als die wichtigste italienische Adresse für die klassische Moderne zu bezeichnen.

Anhand von rund 200 Gemälden werden die intensiven aber immer noch relativ unbekannten Beziehungen und Beeinflussungen italienischer, russischer und deutscher Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert. Avantgarden, die alle ungefähr zur gleichen Zeit entstanden sind und, wenn auch unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen, vorgegebene künstlerische Ausdrucksweisen radikal transformierten.

In Russland wollten Künstler aufgrund vorrevolutionärer und schließlich revolutionärer Umwälzungen neue Ausdrucksformen einer modernen Kunst realisieren. Der erste Weltkrieg, der Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Einfluss des italienischen Futurismus provozierten die Abstraktionen der Maler des "Blauen Reiters", darunter Gabriele Münter, Alfred Kubin und Paul Klee.

Ester Coen: ""Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Thema des Futurismus, der einen radikalen Bruch mit der italienischen Kunst der vorherigen Zeit bedeutete. Die Künstler und Provokateure dieses Stils, neben Balla sind das unter anderem Gino Severini und Umberto Boccioni, wollten, ausgehend von Marinettis futuristischem Manifest, das Radikale der modernen Welt darstellen. Und das ging ihrer Meinung nach nur mit Hilfe von Kunstwerken, die Schnelligkeit und Maschinen wiedergeben. Eine Ikonographie, die alle Kunstformen beeinflusste"."

Der Versuch, Bewegung und Geschwindigkeit in Bilder umzusetzen, auch mit Hilfe der neuen Medien Film und Fotografie, wurde durch den Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti am 20. Februar 1909 in seinem Aufsehen erregenden "Manifest des Futurismus", veröffentlicht im Pariser "Le Figaro", auf den Punkt gebracht. In Erinnerung an diesen kunstrevolutionären Text soll die Ausstellung des MART in Rovereto auch eine Hommage an den Futurismus und seinen Einfluss auf die europäische Kunst sein.

Den futuristischen Künstlern Italiens, die den linksrevolutionären jungen Benito Mussolini zu ihrem politischen Helden erkoren hatten, ging es um die totale Überwindung des statischen Weltbildes zugunsten der als heilig beschworenen Geschwindigkeit des maschinenbetriebenen Fortschritts. Eine Kunst-Idee, die im späteren Faschismus Mussolinis zur staatlichen Kunstideologie erhoben wurde.

Ein ähnlicher aber gezielt kommunistischer Kunst-Ansatz findet sich in Russland. Ohne politisch-ideologische Implikationen präsentieren hingegen die deutschen Avantgarde-Künstler ihre Werke, meint Ausstellungskuratorin Ester Coen:

""Die Künstler der 'Brücke' und des 'blauen Reiters' hatte hingegen ein anderes Ziel und Ernst Ludwig Kirchner bezeichnete es 1906 als den Glauben an eine neue Generation von Schaffenden und der, so seine Worte, Genießenden, die die Jugend zusammenruft, um eine neue Zukunft zu bauen. Die Idee der Zukunft, der Utopie und des Optimismus war dort das künstlerische Credo". "

So zeigen die im MART ausgestellten Gemälde von Kirchner und Oskar Kokoschka, von August Macke, Klee und Franz Marc keine Triumphe der Geschwindigkeit, beschwören keine schnellen Maschinen und Flugzeuge, sondern stellen Straßen- und Landschaftsszenen, Personen und Tiere dar. Viel zu idyllisch für die revolutionstrunkenen Erneuerer der Kunst in Italien, die, zusammen mit ihrem politischen Idol Mussolini, alles Alte zerstören und einen ganz neuen kämpferischen Menschen schaffen wollten.