Zwischen Nobelpreis und Scheiterhaufen

Von Michael Lange · 23.10.2011
Für die einen sind embryonale Stammzellen medizinische Hoffnungsträger. Für die anderen sind sie ethisch inakzeptabel, da zu ihrer Gewinnung menschliche Embryonen gebraucht werden. Die Diskussion zwischen Wissenschaftlern, Politikern und Ethikern hält seit mehr als zehn Jahren an.
Im Mai 2001 kannte kaum jemand in Deutschland embryonale Stammzellen. Dann trat der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ernst-Ludwig Winnacker vor die Presse.

"Diesen Zellen wird nicht nur ein hohes entwicklungsbiologisches Potenzial nachgesagt, sondern – weil sie das haben – auch große Chancen in der Behandlung von Krankheiten."

1998 hatten US-Forscher erstmals Zellen aus Embryonen im Labor vermehrt und ihre Vielseitigkeit erkannt. In Deutschland wartete man zunächst ab. Drei Jahre später forderte die DFG, dass auch deutschen Forschern die Arbeit mit embryonalen Stammzellen erlaubt werden sollte. Kurswechsel in der Stammzellenforschung, titelte am 4. Mai 2001 die Süddeutsche Zeitung:

"Die Deutsche Forschungsgemeinschaft spricht sich nach langem Zögern für die Forschung an Stammzellen von Embryonen aus und gibt Empfehlungen, um die geplante Züchtung von Ersatzgewebe für Schwerkranke zu ermöglichen."

Die Entscheidung war dem Wissenschaftler-Gremium nicht leicht gefallen, denn es gab begründete Einwände.

"Die embryonalen Stammzellen müssen aus Embryonen hergestellt werden, und das ist in Deutschland laut Embryonenschutzgesetz verboten."

Ein Forschungsantrag des Neurowissenschaftlers Oliver Brüstle von der Universität Bonn hatte den Stein ins Rollen gebracht. Er wollte die umstrittenen Zellen aus dem Ausland importieren und ihre Möglichkeiten zur Behandlung von Nervenkrankheiten kennenlernen. Es handelte sich um Zellen aus Embryonen, die nach künstlichen Befruchtungen übrig geblieben waren. Sie lagerten zu Tausenden in Gefriertanks im Ausland, ohne dass sie jemals wieder für die Fortpflanzungsmedizin verwendet werden konnten.

"Für mich als Mediziner ist es sehr schwer nachzuvollziehen, diese Zellen nicht zu nutzen, und sie stattdessen wegzuwerfen. Hier sehe ich es geradezu als Pflicht an, zu versuchen, wenigstens aus diesen überzähligen Zellen therapeutisch, medizinisch relevante Zelllinien zu generieren, um anderen Menschen letzten Endes damit zu helfen."

Um die ethischen Fragen zu klären, gründete Bundeskanzler Gerhard Schröder 2001 den "Nationalen Ethikrat". Dieser empfahl nach langen Beratungen, den Import bereits existierender Zellen aus dem Ausland unter strengen Beschränkungen zuzulassen. Entscheiden aber musste der Deutsche Bundestag. Hier äußerten sich viele Kritiker der Stammzellenforschung, wie der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe:

"Es ist eine Grundfrage unseres menschlichen Zusammenlebens: Es geht darum: Wer hat Lebensrecht, wer hat Menschenwürde in dieser Gesellschaft. Und dann geht es darum, dass man die Frage stellen muss: Darf man tatsächlich ein menschliches Leben gegen ein anderes oder auch nur gegen Hypothesen abwägen?"

Die Frage, wann das absolut schutzwürdige menschliche Leben beginnt, konnte und wollte der Bundestag nicht abschließend beantworten. Im politischen Streit ging es daher auch um das medizinische Potenzial der umstrittenen Zellen. So setzten viele Politiker, aber auch Wissenschaftler große Hoffnungen auf sogenannte adulte Stammzellen. Das sind Zellen im Körper jedes Menschen, aus denen andere Zellen hervorgehen können. So entstehen aus Blutstammzellen verschiedene Typen von Blutzellen.

Allerdings sind die Fähigkeiten dieser adulten Stammzellen nicht mit denen der embryonalen Stammzellen vergleichbar. Sie lassen sich nicht so gut im Labor züchten und sie sind nicht so wandlungsfähig wie die embryonalen Stammzellen. Schließlich setzte sich im Deutschen Bundestag eine Kompromissformel durch, die die Forschung auch mit embryonalen Stammzellen ermöglichte. Der Spiegel schrieb:

"Der Bundestag hat den Import von embryonalen Stammzellen unter strengen Auflagen erlaubt. Nach zwei Abstimmungen setzte sich die Kompromissformel durch."

"Ich denke, es ist ein klares positives Signal für die Stammzellenforschung in Deutschland","

erklärte der Bonner Stammzellenforscher Oliver Brüstle. Aber es durften nur solche embryonalen Stammzellen aus dem Ausland importiert werden, die bis zum Stichtag 1. Januar 2002 im Ausland hergestellt worden waren. So sollte verhindert werden, dass neue embryonale Stammzellen im Ausland gezüchtet wurden.

""Ich selbst hätte mir sicherlich eine weniger restriktive Regelung gewünscht, sehe aber, dass ein Kompromiss gefunden werden musste. Und es bleibt natürlich jetzt zu hoffen, dass die Einschränkungen, die mit diesem Beschluss verbunden sind, nicht dazu führen, dass die Umsetzung über Monate verzögert wird."

Im Dezember 2002 wurden die ersten embryonalen Stammzellen aus Israel nach Deutschland importiert. Um die Stammzellenforschung wurde es ruhiger. Bis zwei Jahre später, 2004, eine Sensationsmeldung aus Südkorea die Diskussion wieder aufflammen ließ. Durchbruch. So nannte es der Spiegel:

"Erstmals ist es gelungen, menschliche Embryos zu klonen und daraus Stammzellen zu gewinnen. Aus den Zellen lässt sich körpereigenes Gewebe züchten, wie Muskeln, Knochen oder Nervenzellen – ein Durchbruch für das therapeutische Klonen."

Durch die Verbindung von Klontechnik und Stammzellenzüchtung eröffneten die Ergebnisse des Koreaners Hwang Woo Suk anscheinend neue Möglichkeiten für die Stammzellenmedizin. Aus einer menschlichen Körperzelle wurde ein Embryo, und aus dem konnte das Team um Hwang embryonale Stammzellen gewinnen.

"Es wird ein neuer Urquell geschaffen. Es wird eine Verjüngungskur in Aussicht gestellt. Viele haben auch tatsächlich daran geglaubt."

Ingrid Schneider vom Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt BIOGUM der Universität Hamburg:

"Man hat eine völlig neue Sicht gehabt von Alterungsprozessen, von Regenerationsprozessen. Das war auch auf jeden Fall befruchtend. Es wird auch mit Sicherheit irgendwann irgendetwas dabei herauskommen. Aber ob das die wunderbaren Stammzellen sein werden, die man dann implantiert, das ist die ganz große Frage."

Die Zweifler sollten recht behalten. Denn nur zwei Jahre später wurden die Hoffnungen der Wissenschaftler enttäuscht. Hwang hatte seine wichtigsten Ergebnisse manipuliert. Nichts als Fälschungen, hieß es am 10. Januar 2006 im Focus:

"Der einst wie ein Popstar gefeierte Hwang hat nicht eine einzige menschliche Stammzelle geklont. Das belegt jetzt ein wissenschaftlicher Untersuchungsbericht."

Die Stammzellenforscher waren in der Defensive. Manchmal ging es bei kontroversen Debatten höchst unsachlich zu, erinnert sich Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster:

"Die Diskussion war tatsächlich so emotional, dass ich gedacht habe: Wenn die mich jetzt auf den Scheiterhaufen werfen könnten, würden sie es tun."

Doch dann eröffneten Forschungsergebnisse aus Japan einen Ausweg. Stammzellen ohne Konfliktpotenzial, schrieb am 20. November 2007 die Süddeutsche Zeitung:

"Erstmals haben Forscher Körperzellen von erwachsenen Menschen in vielseitige Stammzellen verwandelt."

Die geniale Idee stammte von Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto. Hans Schöler:

"Das ist eine der ganz großen wissenschaftlichen Erfolgsgeschichten. Unter Wissenschaftlern wird spekuliert, ob Yamanaka dieses oder nächstes Jahr den Nobelpreis dafür bekommt, weil er die wissenschaftliche Welt in den Grundfesten erschüttert hat und dafür gesorgt hat, dass man plötzlich Dinge machen kann, die man selbst mit embryonalen Stammzellen nicht machen konnte."

Aus Körperzellen machten Shinya Yamanaka und sein Team so genannte IPS-Zellen, induzierte pluripotente Stammzellen. Zellen aus dem Körper, die sich verhielten wie embryonale Stammzellen. In den folgenden Jahren wurden immer mehr IPS-Zellen gezüchtet. Die Zeit der Zellen aus Embryonen schien abgelaufen.

Inzwischen ist die Forschung noch einen Schritt weiter gekommen. An der Stanford-Universität in Kalifornien gelang es, Körperzellen direkt zu verwandeln, ohne den Umweg über Stammzellen. Stammzellenforschung ohne Stammzellen, nannte das im Februar 2010 der Berliner Tagesspiegel:

"Marius Wernig hat Hautzellen von Mäusen in Nervenzellen verwandelt. Ohne Stammzellen. Eines Tages könnten so Therapien für Menschen entwickelt werden, sagt der Mediziner."

"Viele meiner Kollegen haben mir gesagt: Das ist ja ein wahnsinniges Experiment. Wie soll das funktionieren."

Aber es funktionierte.

"Ich war auf jeden Fall überrascht, dass es so wahnsinnig gut funktioniert, und dass wir Zellen bekommen, die im Wesentlichen alle Funktionen aufweisen, die auch Nervenzellen im Gehirn aufweisen."

Embryonale Stammzellen werden heute in den Labors immer noch gebraucht. Denn sie sind die vielseitigsten aller Zellen. Adulte Stammzellen oder IPS-Zellen müssen sich an ihnen messen lassen. Auch dienen sie als Vorbild für die Züchtung neuer Zellen. Von ihnen wollen die Forscher lernen, wie sie andere Zelltypen so verändern, dass sie sich in jeden Zelltyp umwandeln lassen.

Ob es sinnvoll ist, embryonale Stammzellen auch medizinisch zu nutzen, ist allerdings immer noch umstritten. Die Praxis wird entscheiden. In den USA begann im Oktober 2010 die erste klinische Studie, bei der embryonale Stammzellen verwendet wurden. Die Zeit schrieb:

"Ein Querschnittgelähmter ist mit embryonalen Stammzellen behandelt worden. Ärzte einer US-Klinik spritzten ihm die daraus gewonnenen Zellen. Das Ergebnis steht noch aus."

Weitere klinische Studien mit Zellen aus embryonalen Stammzellen sollen noch in diesem Jahr folgen. Ob und wann die Zellen vielen Menschen helfen können, ist offen. Die ethische Diskussion hat sich seit 2001 kaum verändert. Aber es ist ruhiger geworden.
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