Zwischen Mythos und Moderne

12.09.2013
Rasant erzählt "Geschwister des Wassers" das Schicksal von drei Waisenkindern. Andréa del Fuegos Debütroman handelt von den tief greifenden Veränderungen in ihrer brasilianischen Heimat - wo Geisterglauben, technischer Fortschritt und die Zerstörung der Natur zum Alltag gehören.
Die Geschicke der drei Geschwister Nico, Antônio und Júlia beginnen mit einem Donnerschlag, im wortwörtlichen Sinn. Ein Gewitter geht über der Serra Morena nieder, der Blitz schlägt in ihr Haus ein, und beide Eltern werden getötet. Die archaische Wucht dieses Auftaktes gibt den Pendelschlag des Debüts der brasilianischen Schriftstellerin Andréa del Fuego vor.

Immer wieder kommt es zu eigentümlichen Reibungen zwischen einem tief verwurzelten mystischem Empfinden für die Erscheinungsformen des Daseins und den Ausprägungen der Moderne. So nimmt die verstorbene Mutter des Großgrundbesitzers Geraldo lediglich eine andere Gestalt an und kann sich im Wasser ebenso materialisieren wie im Licht einer Glühbirne. Ein anderes Mal verschwindet Nico plötzlich im Kaffeefilter und taucht nach längerer Zeit mit einer neuen Augenfarbe wieder auf. Außerdem treibt ein altes Damenzwillingspaar, das nicht jeder wahrnimmt, in entscheidenden Momenten sein Unwesen.

Nach dem Tod der Eltern werden die Geschwister zunächst getrennt: Nico tritt in den Dienst des Großgrundbesitzers Geraldo ein, katholische Nonnen nehmen Antônio und Júlia auf. Während der Junge sich als kleinwüchsig entpuppt, im Kloster bleibt und später zu Nico und dessen Frau zurückkehrt, um ihnen im Haushalt zur Hand zu gehen, landet Júlia bei einer eleganten arabischen Dame, wo sie als Arbeitskraft eingesetzt wird, bis sie wegläuft. Unterdessen zieht der Fortschritt in die Serra Morena ein: Ein Staudamm überflutet die alten Ländereien, neue Häuser werden gebaut, die Bedingungen verändern sich. Im Urwald des Nachbartales taucht ein Schiff auf, das für Nico und seine Familie zur Zufluchtsstätte wird.

Autobiografisch inspiriertes Debüt
Andrea del Fuégo, 1975 in São Paulo geboren, als Bloggerin und Kinderbuchautorin aktiv, vermittelt in ihrem autobiografisch inspirierten Erstling die widersprüchliche und zerrissene Identität Brasiliens über die Friktionen zwischen Moderne und Archaik. Genau wie ihre Helden seien auch ihre Großeltern getrennt von ihren Geschwistern aufgewachsen, erklärt sie einer brasilianischen Zeitung. Dass Geister und übersinnliche Phänomene ebenso selbstverständlich vorhanden sind wie Elektrizität oder Telefone, zeichnet die Welt dieses Romans aus. Der Zauber des teils noch etwas ungelenken Debüts besteht für den westeuropäischen Leser in den Beschreibungen des Menschenschlages: der selbstverständliche Umgang mit dem Unerklärlichen, die stoische Haltung allen Veränderungen gegenüber.

Die Autorin schlägt ein rasantes Tempo an, das dem Rhythmus des Wandels zu entsprechen scheint: In knappen Kapiteln entfaltet sie das Schicksal ihrer Hauptfiguren, reißt vieles nur an, schraffiert es mehr, als es erzählerisch zu durchdringen. Eine gönnerhafte oder paternalistische Haltung liegt ihr fern. Auch die Sprache lebt durch Gegensätze: Bildhafte, aufgeladene Vergleiche stehen neben lapidaren Beschreibungen. Andrea del Fuégo vermittelt uns vor allem eines: Die weitläufigen Täler stecken voller Geheimnisse.

Besprochen von Maike Albath

Andréa del Fuego: Geschwister des Wassers
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis
Carl Hanser Verlag, München 2013
204 Seiten, 17,90 Euro
Mehr zum Thema