Zwischen Lust und Leiden

Frankreichs bedeutendster Kenner des Mittelalters schwimmt wie gewohnt gegen den Strom. Während seine Historikerkollegen meinen, die Geschichte des Denkens und der Ideen sei der Schlüssel zur Geschichte überhaupt, hat sich Jacques Le Goff dem Körper zugewandt. Dabei bleibt er seinem Programm treu, das andere Mittelalter zu erforschen und davon in seiner unverwechselbaren Mischung aus Essay und Erzählung zu berichten.
Wieder einmal hat Frankreichs – vielleicht sogar Westeuropas – bedeutendster Kenner des Mittelalters zugeschlagen: Jacques Le Goff schwimmt wie gewohnt gegen den Strom. Denn während seine Historikerkollegen weiter unter der Prämisse schreiben, eine Geschichte des Denkens und der Ideen sei der Schlüssel zur Geschichte überhaupt, hat sich der emeritierte Hochschullehrer unter der Programmatik „Gender und Gesten“ dem Körper zugewandt und eine Körpergeschichte des Mittelalters verfasst.

Dabei bleibt er seinem Programm treu, „das andere Mittelalter“ zu erforschen und davon in seiner unverwechselbaren Mischung aus Essay und Erzählung zu berichten. Das andere Mittelalter datiert er übrigens ganz anders, als es unsere Schulweisheit gelehrt hat. Während die meisten seiner Kollegen das Mittelalter mit Kaiser Karl dem Großen beginnen und mit Martin Luther enden lassen, datiert Le Goff die mittelalterliche Epoche vom Beginn der Völkerwanderung bis zum aufkommenden Barock. Durch solche Verlängerung erhält er, wie er selbst sagt, eine Geschichte in langsameren Rhythmen, nicht angetrieben von den „großen“ Ereignissen, sondern von der Langsamkeit universeller ethischer und weltanschaulicher Entwicklung.

Ein Schlüsselzitat: „Die Geschichte der Körpers bietet dem historisch Interessierten einen Vorteil und einen zusätzlichen Nutzen: Der Körper illustriert und nährt eine Geschichte in langsamen Rhythmen. In Wirklichkeit gibt erst der Körper dieser Art von Geschichte, der Geschichte der Ideen, der Mentalitäten, der Institutionen und sogar der Technik und der Wirtschaft überhaupt einen Körper, eine GESTALT. … Die Fülle der animalischen Lustbarkeiten ist ein Mittel, die physiologischen Vorgänge des Körpers zu erwähnen, alles auf das Gebiet des Körpers zu holen, weil es universell ist; zum Trinken, Essen, zur Verdauung, zur Sexualität. Masken, Jonglieren mit Wörtern und Sprache, durchlässige Grenzen zwischen Mensch und Tier, Prostituierte, Affen, Gestikulieren, Verdrehungen, Metamorphosen, Gelächter, Tränen, Ironie und Spott… Todesangst, Todessehnsucht und Lobpreis der körperlichen Schönheit: Die Widersprüche im Körper sind existentiell geworden. Der Körper hat also eine Geschichte. Der Körper IST unsere Geschichte.“

Der Wandel vom antiken zum mittelalterlichen Körper bedeutet die Abschaffung eines eigenen Raumes, der für den Leib reserviert ist: Stadion, Gymnasion, Theater. Der „Sport"platz ist ein nur anderweitig genutzter alltäglicher Raum, dem keine „besondere“ Qualität zugedacht wird. Die grundsätzliche Trennung von Körper und Seele bereitet die „Vernunftlehre“ (Le Goff) vor.

Völlig zerrissen ist das Christentum, verglichen mit der Antike, in der Bewertung der Körperlichkeit des Menschen: Der Körper wird gleichzeitig glorifiziert und unterdrückt, gepriesen und gedemütigt. Von einer generellen Abwertung des Leibes, zum Beispiel durch das Christentum als Grundelement unserer kollektiven Identität, kann dennoch keine Rede sein. Es gibt auch keinen „Vorzug“ des Geistes oder der Seele gegenüber dem Körper.

Thomas von Aquin ist davon überzeugt, dass die sinnlichen Leidenschaften die spirituelle Kraft beflügeln! Seither kann von einer Abwertung des Leibes und eine Tabuisierung des Blutes nicht mehr gesprochen werden. Christus selbst hat mit seinem Leib die Menschheit erlöst und seine Vergegenwärtigung wird mit Leib und Blut (Brot und Wein) begangen.

So wie Fasten und Karneval standen im Mittelalter Geist und Körper, Leibfeindlichkeit und Leibbejahung in einer unaufhörlichen Spannung. Vielleicht hat also Le Goff Recht, wenn er zusammenfasst, dass die Moderne ihre nachhaltigen sinnlichen Wurzeln in dieser Spannung des Mittelalters gehabt habe.

Rezensiert von Jochen R. Klicker

Jacques Le Goff/Nicolas Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter
Aus dem Französischen von Renate Wartmann
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2007
224 Seiten, acht Bildtafeln, 24,90 Euro