Zwischen Liebe und Tod

Rezensiert von Ursula März · 04.11.2005
In ihrem ersten Roman erzählte Nelly Arcan von ihrer Zeit als Prostituierte und landete damit einen Bestseller. In "Hörig" geht es erneut um Obsession, um Abhängigkeit und Verfallenheit.
Dieses Buch gleicht einem perfekten Menü. Es enthält alles, jede Zutat, jedes Gewürz, das die literarisch aktuelle und erfolgreiche Nouvelle Cuisine erfordert. Die Grundlage ist das recht scharfe Gemüse autobiographischer, also verbürgter Frivolität. Denn die Autorin Nelly Arcan, die vor ein paar Jahren mit dem Roman "Hure", in dem sie enthüllte, tatsächlich oder angeblich eine solche gewesen zu seinen, einen internationalen Bestsellererfolg landete, zieht auch in ihrem neuen Buch den Blick des Lesers ungefiltert, ungeschützt und unmittelbar auf sich und ihr Leben.

Was sie erzählt, kann dessen Wahrheit oder auch nur Wahrheitserfindung sein, das Changieren zwischen beidem ist in jedem Fall ein typisches Manöver zeitgenössischer Literatur - zumal der französischen Selbstdarstellungsliteratur von Frauen, die von Marguerite Duras gelernt und von Catherine Millet das Rezept aus Sex, gelebtem Leben und mittlerem Romanstil übernommen haben. Nach dem Thema Prostitution bearbeitet Nelly Arcan nun ein anderes Thema aus dem Spektrum der Sexualitätserzählung.

Der Titel des Romans "Hörig" sagt es schon: es geht um Obsession, um Abhängigkeit und Verfallenheit. Eine 29-jährige Frau, berühmt durch ihren Roman "Hure", bekannt aus zahllosen Fernseh- und Illustrierteninterviews, eine Frankokanadierin wie Nelly Arcan und also diese selbst, lernt einen französischen Journalisten kennen, dem sie sehr schnell erotisch und emotional verfällt. Die Amour fou dauert ein paar Monate, dann entfernt sich der Frauenheld von ihr, der nicht nur mit anderen realen, sondern vor allem und mehr noch mit andren imaginierten Frauen untreu ist. Er ist besessener Konsument von Internet-Pornographie. Das obszöne Körperbild zieht er dem Körper aus Fleisch und Blut vor. Diese kulturelle Metaphorisierung ihrer Geschichte verfolgt die Autorin konsequent, während sie die psychologische Schlüssigkeit und eine differenzierte Charakterzeichnung vernachlässigt.

Ihre Figuren sind Chiffren, ihr Handeln ist symbolisch. Zum eher zeitgeistigen Internet-Motiv tritt ein zutiefst traditionelles Motiv:
Die Verknüpfung von Sexus und Tod. Denn die hörige Frau, die mit ihrem Liebesschmerz in einem Sumpf aus Alkohol, Zigaretten, Drogen und ganztägigem Konsum trivialer Fernsehserien versinkt, lebt auf ihren geplanten Freitod hin. Seit ihrer Kindheit ist sie entschlossen, ihrem Leben an ihrem 30. Geburtstag ein Ende zu setzen. Genau einen Tag davor beendet sie die Niederschrift des Romans, der der Form nach ein Brief an den verlorenen Geliebten, genau genommen an den Tod ist, auf den sie zusteuert. Keine Frage: das alles ist erzählerisch und motivisch in eine perfekte Konstruktion gebracht; perfekt angerichtet. Das ganze Buch, ja, das ganze Nelly-Arcan-Produkt besitzt allerdings auch die Kälte und die strategische Durchsteuerung des Perfekten. Genau genommen handelt es sich um Literatur aus dem Geist der Markenproduktion. Die Marke "Arcan-Roman" funktioniert genauso wie die Marke "Prada" oder "Chanel".
Das ist kulturell interessant, literarisch nur sehr bedingt.

Nelly Arcan: Hörig
Roman
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Claassen Verlag, Berlin 2005
215 Seiten. 20 Euro