Zwischen Lemur und echtem Affen

Von Anke Petermann |
"Ida" heißt der Urprimat. Gefunden wurde das Fossil schon Anfang der 80er-Jahre in der Ölschiefergrube Messel bei Darmstadt, vormals ein Kratersee. Seit 1995 steht dieses "Pompeji der Paläontologie" als Weltnaturerbe unter dem Schutz der UNESCO. Jetzt macht sich die Grube Messel für die Weltöffentlichkeit fein.
Damals, vor 47 Millionen Jahren: Ein fast 100 Meter tiefer Kratersee erstreckt sich zwischen Lorbeerbäumen und Palmen, Gräsern und Farnen. Durchs Unterholz des subtropischen Regenwaldes rascheln Ameisenbären und Ur-Tapire. Katzengroße Urzeitpferdchen grasen in brütender Hitze am sumpfigen Ufer. Affen und Lemuren schwingen sich von Ast zu Ast. Riesen-Ameisen paaren sich beim Flug über den See. Urzeithechte und Krokodile pflügen durchs Wasser. Gejagt, von einer Windböe erfasst oder vom Regen gepeitscht, fallen Tiere in den Messel-See. Wird eines nicht sofort von Krokodilen gefressen, sinkt es tief hinunter auf den sauerstofffreien Grund.

"Dort gab es so'n Faulschlamm, der die Tiere relativ schnell bedeckt hat, und die konnten eben nicht von anderen Tieren gefressen werden, weil kein tier so tief runter tauchen konnte, weil dort eben kein Sauerstoff war. Und die konnten auch nicht von Bakterien zersetzt werden. Es gab nämlich dort keine. Es gab anaerobe Bakterien, die keinen Sauerstoff benötigen, und das ist das, was die Haut jetzt darstellt. Und die anaeroben Bakterien sind beim Zersetzen der Haut sozusagen versteinert."

Auch das Fell wird von diesem Bakterienrasen abgebildet. Deshalb, so erklärt Marisa Blume vom Landesmuseum Darmstadt einer Besuchergruppe, wirken die vor Jahrmillionen Jahren im Messel-See versunkenen Urzeitpferdchen und –affen heute so perfekt erhalten.

"Die liegen fast alle auf der Seite, das ist auch eine ganz typische Haltung von Wasserleichen - recht entspannt auf der Seite, die sehen eigentlich aus, als ob sie schlafen würden."

Nach mehr als einer Million Jahre trocknet der Messel-See aus. Der Faulschlamm erstarrt zu bröseligem, schwarzem, wasserhaltigen Tonstein, den hessische Bergleute als "Ölschiefer" zur Rohöl-Gewinnung abbauen: eine geeignete Umgebung, um die Wasserleichen des Eozäns in allen Einzelheiten zu konservieren, sogar die schillernden Strukturfarben des Prachtkäfers blieben erhalten, immer noch bricht sich das Licht im versteinerten Chitin. Die Besucherführerin legt einen kurzen Zwischenstopp ein, hält die verkleinerte Fotografie eines etwa 60 cm großen Fossils hoch kommt auf den spektakulärsten Fund von Messel zu sprechen. Ein Hobbypaläontologe fand das Äffchen vor mehr als einem Vierteljahrhundert und konservierte es zum Privatvergnügen. Vor drei Jahren verkaufte der anonyme Sammler es meistbietend ans Naturkundemuseum Oslo, vor einem halben Jahr outeten Wissenschaftler Ida als den weltweit am besten erhaltenen Primatenfund, samt Mageninhalt und Bezahnung:

"... in die Richtung schon der Menschen. Man hat dann gesagt, unsere Urururgroßmutter ist gefunden. Das ist es nicht, sondern eher eine Ururgroßtante - kein direkter Vorfahr eben. Und es ist noch ein Jungtier ...
- Gehört das nicht zu den Kunstschätzen, die der Allgemeinheit gehören?"

Unter den internationalen Besuchern des UNESCO-Weltnaturerbes entspinnt sich eine lebhafte Diskussion darüber, wem die junge alte Tante Ida aus Messel eigentlich gehört und wo sie künftig ihren Wohnsitz nehmen sollte.

"Das ist eine Streitfrage."

Immerhin: Einen Besucherboom hat Ida ihrer Herkunftsgrube schon beschert. Nur in geführten Gruppen haben Interessierte heutzutage Zutritt zum Weltnaturerbe. Anders als zu den hobbypaläontologischen Goldgräberzeiten der 70er-Jahre ist die Grube heute umzäunt und mit einem Tor verschlossen. So lebhaft ist der Besucherstrom, dass die Gruppen nur noch in vereinzelten Spezialführungen zu den Grabungsstellen des Frankfurter Senckenberg-Instituts und des Landesmuseums Darmstadt geleitet werden, die üblichen Gruben-Spaziergänge führen weitläufig daran vorbei. Die Präparatoren und Wissenschaftler würden sonst nämlich nicht mehr zu ihrer eigentlich Arbeit kommen

Präparator Michael Ackermann rammt einen Keil in quer zum Hang verlaufende Ölschieferschichten und stemmt eine Platte ab.

"Also hier werden große Ölschieferplatten abgebaut und dann per Hand in die Schubkarren transportiert und dann werden die Schubkarren an die Spaltkante gefahren und dann setzen sich alle da wieder hin und spalten das Material durch."

... beschreibt Sonja Wedmann, Grabungsleiterin fürs Senckenberg-Institut. Drei Studentinnen assistieren den Präparatoren Ackermann und Behr. Alle fünf haben gelbe Isomatten auf den Oberschenkeln, darauf Ölschieferplatten unterschiedlicher Größe. Mit langen, scharfen Fleischermessern spalten sie die Platten. Der schiefrige Tonstein klappt auf wie ein Buch, die fünf schauen jeweils auf beiden Seiten, ob da ein Fossil ist. Finden sie nichts, werfen sie die Reste von der Hangkante hinunter auf eine kleine Halde. Erkennen sie schwarze Schatten oder Ausbuchtungen, halten sie dagegen inne:

"Ich hab' hier gerade n Blatt aufgespalten, da fehlt nur eine ganz kleine Ecke. Das werde ich jetzt auf jeden Fall ausschneiden und mitnehmen ..."

... in die nahe gelegene Forschungsstation des Senckenberg-Instituts nämlich, wo die Funde nach Ende der Grabungszeit jetzt im beginnenden Winterhalbjahr präpariert werden.

" ... so, könnt ihr das gerade mal in den Pflanzen-Eimer werfen?"

Bis dahin müssen die Fossilien feucht gehalten werden, damit sie nicht samt Ölschieferunterlage zerbröseln. Jeden ihrer Funde versenken die Institutsmitarbeiter daher sofort in weißen Plastikeimern,

"Das ist ein schöner Käfer, ein schwarzer, noch mit Ölschieferresten bedeckt. Aber da bin ich sicher, da kann man viel entfernen, und dann ist der sehr vollständig. Ein schönes Stück ..."

Und neue Arbeit für die Insektenforscherin Sonja Wedmann. Eine Schieferplatte nach der anderen brechen die Präparatoren auf. Gemeinsam mit den Wissenschaftlern arbeiten sie sich sozusagen durchs Buch der Evolution. Mal stoßen sie auf einen der ältesten Nager der Erdgeschichte, mal auf eine eigenartigen Kombination von langen Eckzähnen und höckrigen Backenzähnen, also eine Mischung aus Raubtier und Pflanzenfresser.

Szenenwechsel: Beim Richtfest fürs schicke Besucherzentrum freuen sich Politiker über Touristenströme und Weltruhm für die Grube. Dass viele der jubelnden Festgäste in den 80er-Jahren das Pompeji der Paläontologie gern mit Hausmüll zugeschüttet hätten, ist Anno 2009 kein allzu beliebtes Thema. "So mancher ist vom Saulus zum Paulus mutiert", schmunzelt Messels Bürgermeister, Udo Henke zählt sich als Christdemokrat selbst dazu. Doch die Messeler gründeten eine schlagkräftige Bürgerinitiative gegen die Kippe, als einzige Partei kämpften die frisch geborenen hessischen Grünen unter ihrem Vorsitzenden Joschka Fischer gegen die Deponiepläne. "Palaeopython fischeri" heißt heute dem späteren grünen Umweltminister zu Ehren ein in Messel entdecktes Schlangenfossil. Südhessische Kommunalpolitiker waren elektrisiert vom finanziellen Potenzial des Deponie-Projekts, mit dem Zweckverband Abfallbeseitigung wollten sie es um jeden Preis durchpeitschen, erinnert sich der Jurist Wolfgang Martin, der an Wochenenden selbst noch mit Eltern und Bruder graben gegangen war:
"Man hat nämlich folgende Rechnung aufgemacht: Wir lagern hier 25 Millionen Kubikmeter Müll ein à 400 Mark pro Kubikmeter, macht zehn Milliarden, und die teilen wir uns gestreckt auf 30 Jahre zwischen Stadt und Landreis, und dagegen können Sie furchtbar schwer mit Weltnaturerbe argumentieren ... "

... zumal die UNESCO damals den Ehrentitel ja noch gar nicht verliehen hatte. Das geschah erst 1995, sozusagen als Lohn für den Kampf gegen den Müll.