Zwischen Kastensystem und IT-Geschäft

Rezensiert von Hans Christoph Buch · 18.08.2006
Der Spiegel-Redakteur Olaf Ihlau erklärt in seinem Sachbuch, warum der Subkontinent Indien nicht unterschätzt werden sollte. Er sagt dem Land der Paradoxe trotz seines starren Kastensystems und seiner oft empörenden Rückständigkeit einen Gewinn an politischem und wirtschaftlichem Einfluss voraus.
"Da stehen Hangars für Weltraumraketen neben leeren Wasserleitungen, wird direkt neben dem Atommeiler der Boden immer noch mit dem Holzpflug bearbeitet, gibt es das drittgrößte Reservoir der Welt an Technikern, Ingenieuren und Informatikern, aber mehr als ein Drittel der indischen Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben. Bald wird die zweitgrößte Nation der Welt ihre größte sein, wenn Indien mit 1,46 Milliarden Menschen an China vorbeizieht… Auf dem Subkontinent ist ein Koloss herangewachsen, der künftig das Weltgeschehen mitbestimmen wird. Ökonomisch wie politisch und als Atom- und Raketenmacht notfalls auch militärisch."

Mit diesen Sätzen umreißt Olaf Ihlau, der als Spiegel-Reporter mit acht indischen Premierministern sprach und zu den kompetentesten Kennern des Subkontinents gehört, das Programm seines Buchs "Weltmacht Indien". Um es vorweg zu sagen: Neben den Reportagen von BBC-Korrespondent Mark Tully und Literaturnobelpreisträger Naipaul ist dies das beste und aktuellste Buch über die neue Großmacht in Asien.

Deutsche Dichter und Denker empfanden seit jeher eine besondere Affinität zu Indien, das als Wiege der indogermanischen Sprache und Kultur gefeiert und in einer rückwärtsgewandten Utopie zur romantischen Idylle verklärt wurde: Von Goethe, Herder und den Gebrüdern Schlegel über Schopenhauer bis zu Hermann Hesse, dessen Vater als Missionar in Indien tätig war. Und weiter zu Ingeborg Drewitz und Günter Grass reicht die Ahnengalerie deutscher Autoren, die, angewidert von der materiellen Armut, aber fasziniert vom spirituellen Reichtum, mit Hassliebe auf die Herausforderung der indischen Kultur reagieren.

Nicht zu vergessen in dieser Namensliste ist der in Deutschland kaum bekannte, aber in Indien als Heiliger verehrte Max Müller, der in Oxford lehrte und forschte, ohne das Land seiner Sehnsucht mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Nach Max Müller sind die Goethe-Institute in Indien benannt, die unter dem Druck von Sparzwängen eines nach dem anderen geschlossen werden, während Deutschlands auswärtige Kulturpolitik im gleichen Atemzug ihren Schwerpunkt nach Asien verlegt. Das verstehe, wer will, ebenso wie die Tatsache, dass Adolf Hitler und Karl Marx mit fast gleich lautenden Argumenten den britischen Imperialismus in Indien verdammten, was die Anziehungskraft sowohl der nationalsozialistischen wie auch der kommunistischen Ideologie auf Indiens Intellektuelle zumindest partiell erklärt.

Dazu passt, dass das beliebte Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" Ihlaus Buch zufolge nicht von Machiavelli stammt, sondern von einem Zeitgenossen Alexanders des Großen, der die Grundzüge der indischen Staatskunst ersann.

Der eingangs apostrophierte Gegensatz zwischen Atomreaktor und Holzpflug, Computerfachleuten und analphabetischen Bauern ist charakteristisch für viele Länder der Dritten Welt und wird von Reportern und Fotografen gern in Szene gesetzt. So besehen handelt es sich um ein Klischee, und erst der genaue Blick aufs Detail macht die gefährliche Gratwanderung sichtbar zwischen urzeitlichem Ritual und globalisierter Wirtschaft, die Indien derzeit vollzieht:

"Nirgendwo auf diesem Planeten haben die globalen Computergiganten so viele Entwicklungslabors gegründet wie in Indiens Technopolis Bangalore. Nirgendwo arbeiten mehr Informatiker und Ingenieure. Gut 200.000 dürften es unterdessen in über 1500 Firmen sein, und weitere 200 Bauanträge stehen noch an. Mit dem Software und Internetboom hat Bangalore seine Einwohnerzahl auf sieben Millionen verdoppelt, die meisten Erwerbstätigen sind mit dem IT-Geschäft und der Outsourcing-Industrie verbunden."

"Leichen schwimmen viele im Ganges, in dem die Karpfen auffällig groß sind. Denn in sein Wasser werden, an einen schweren Stein gebunden, die in Tücher gewickelten Körper jener geworfen, die der Reinigung durch das Feuer nicht bedurften, weil sie bei ihrem Tod als rein galten: Kinder unter elf Jahren, Sadhus, Priester, schwangere Frauen, Leprakranke, Opfer von Pocken und Schlangenbissen. Aber ist Leichenfleisch nicht verseucht, sein Verzehr gefährlich? ‚Die Toten sind Opfergaben der Götter’, erläutert der Sadhu milde. ‚Wie können die giftig sein?’ Das Fleisch von Menschen schmecke süß."

Ein greller Kontrast, und das Paradoxe daran ist, dass Indiens traditionelle Kultur, die den Fortschritt behindert, vom Kastensystem bis zu heiligen Kühen im Straßenverkehr, gleichzeitig die wirtschaftliche Aufholjagd des Subkontinents ermöglicht hat: Südindien war die Wiege der Mathematik, von hier stammt das Dezimalsystem, und ein indischer Astronom bewies tausend Jahre vor Galilei, dass die Erde sich um die Sonne dreht.

Ein weiteres Paradox liegt darin, dass Indiens ethnische und religiöse Zerrissenheit, die sich immer wieder in pogromartigen Massakern entlädt, die Machtergreifung einer einzelnen Volksgruppe oder Sekte verhindert hat, man denke nur an den Aufstand der Sikhs, und langfristig, gegen den Willen der Beteiligten, die Demokratie stabilisiert. Sozial geächtete und benachteiligte Gruppen wie die Eingeborenenvölker oder die Unberührbaren, aber auch Moslems und Christen fordern heute lautstark ihr Recht, und anders als im kommunistischen China finden ihre Proteste irgendwann Gehör, weil die Regierung wiedergewählt werden will.

Das starre Kastensystem kommt in Bewegung, aber schreiende Missstände sind nach wie vor an der Tagesordnung, von Organhandel und Kinderarbeit bis zur Schuldknechtschaft und der Ermordung von Schwiegertöchtern, deren Eltern die Mitgift nicht bezahlen können.

Trotz Indiens oft empörender Rückständigkeit war es falsch, dass Deutschlands Politikerkaste von Schmidt und Strauß bis zu Kohl und Schröder den Subkontinent links liegen ließ und China den Vorzug gab. Statt finanzkräftiger Investoren strömten zivilisationsmüde Sinnsucher nach Indien, um im Ashram von Poona ihre Orgasmusprobleme zu kurieren; bereit zur Selbsttäuschung, wähnten sie sich in einem Wunderland exotischer Mystik, unbegrenzter Toleranz und erotischer Freizügigkeit, wie Olaf Ihlau schreibt:

"Doch das Indien der Wirklichkeit, geprägt von seinem viktorianischen Kolonialerbe, war eine prüde, sexuell verklemmte Gesellschaft, die bis heute nicht einmal das Küssen in den Liebesfilmen von Bollywood erlaubt."

Mittlerweile hat die deutsche Wirtschaft Indiens Potenzial erkannt, und selbst George W. Bush hat Neu Delhi als global player akzeptiert und mit einem Freundschafts- und Beistandspakt hofiert, wie ihn einst Leonid Breschnew mit Indira Gandhi schloss. Eine Weichenstellung für die Zukunft, denn Indien ist nicht nur die größte Demokratie, sondern bald auch das größte englischsprachige Land der Welt.

Olaf Ihlau: Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens
Siedler Verlag München, 2006