Kulturort Stadion

Zwischen Hingabe und Krawall

23:52 Minuten
Der Flitzer Michael O´Brien, eskortiert von Polizisten, wird am 1. April 1974 in London im Stadion Twickenham vom Platz geführt.
Nackt unter den Augen der Royals: Flitzer Michael O´Brien am 1. April 1974 im Londoner Twickenham Stadion. © IMAGO / TT / IMAGO / Daily Mirror / TT
Von Florian Felix Weyh · 17.03.2024
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Sport bringt viele dazu, etwas zu tun, was nicht unbedingt sportlich ist. Sie singen im Stadion oder unternehmen lange Reisen. Allerdings haben Massenevents in Stadien auch bedenkliche Nebeneffekte: Flitzeraktionen, Alkoholmissbrauch und Schlägereien.
Sendungen wie diese sind wie ein Spaziergang – nein, Hürdenlauf! – über die Nebeneffekte von Sportbegeisterung. Unerwarteterweise zeigt sich die erste Hürde darin, dass viele Menschen gar nicht so gerne über ihre Leidenschaften sprechen. Außer es geht um die Stadionwurst, über die fast jeder Fußballfan dann eben doch gerne spricht:

Die beste Wurst gibts in Mainz vorm Stadion, dann kommt Darmstadt 98, Frankfurt ist so irgendwie mittendrin."

Die Anthropologin Jaya Bowry hat das Ess- und Trinkverhalten in Fußballstadien erforscht und dabei festgestellt, dass es bei manchen Menschen doppelt um die Wurst geht. Man könnte vermuten, der Sport sei dann nicht mehr die Hauptsache – oder dass es auch noch sehr schöne Nebensachen gibt, die von der Hauptsache gar nicht so einfach zu trennen sind.
So wie sich einst Leo Weichbrodt den „Mörderhandschuh“ für sein privates Box-Museum auf Rügen sicherte, das längst nicht mehr existiert: aus Sammelleidenschaft für Sportutensilien. Oder wie Menschen in Stadien singen, zu viel Alkohol trinken, sich nackt ausziehen und über den Rasen rennen. Wobei das fast immer nüchtern passiert. Und eine lange Tradition hat.
Boxhandschuhe mit Autogrammen von Henry Maske gehören zum Fundus des einzigen Boxsportmuseums, das von Leo Weichbrodt in Sagard auf der Insel Rügen aufgebaut worden ist. Der Boxfan hat inzwischen rund 17.000 Ausstellungsstücke zusammengetragen. Seit Dezember sind sie in neuen Museumsräumen wieder zu besichtigen. Unter den Boxhandschuhen, Shorts, Medaillen und unzähligen Fotos befinden sich auch Unikate, die von Max Schmeling, Henry Maske und Axel Schulz gestiftet worden sind. dpa
Sammelleidenschaft: Leo Weichbrodt in seinem Box-Museum in Sagard auf Rügen.© picture-alliance / dpa / Stefan Sauer

Spitzensport dient Flitzern als Medium und Bühne

„Flitzer erscheinen als Formgestalten, die den Spitzensport als Medium nutzen, um sich selbst als Subjekte sichtbar zu machen“, schreiben die Sportsoziologen Karl-Heinrich Bette und Felix Kühnle in ihrem Buch "Flitzer im Sport". „Flitzer tauchen einzeln oder in Gruppen auf, präsentieren sich nackt, teilbekleidet oder kostümiert, tragen Schuhe oder laufen barfuß, sind bemalt oder unbemalt, alt oder jung, maskiert oder unmaskiert.“

Flitzer werden von den anwesenden Zuschauern nicht in Grund und Boden verdammt. Sie erwerben vielmehr auch eine Prise Respekt und Anerkennung ob ihres Mutes, sich (…) als Störenfriede zu exponieren.“

Karl-Heinrich Bette und Felix Kühnle

Historisch überliefert ist der erste Nacktläufer im universitären Milieu, an der „Washington and Lee University“ in Lexington (Virginia), im Jahre 1803. Die erste Sportarena, in der sich ausgerechnet vor den Augen der Royal Family nackte Tatsachen entblößten – we are not amused! – war das Londoner Twickenham-Sta­dion 1974, bei einem Rugby-Match vor 53.000 Zuschauern. Der Medienerfolg des Australiers Michael O’Brien – sein Foto ging um die Welt, s.o. – rief zahllose Nachahmer auf den Plan. Man könnte fast sagen: Von der Sport-Störung wurde das Flitzen zur Risikosportart sui generis.

Fußball als Religionsersatz

Womit wir bei einem weiteren Nebeneffekt des Sports angelangt wären: Wo wird – außerhalb der doch eher selten besuchten Kirche – inbrünstiger intoniert als im Stadion? „Die Wahrnehmung von Fußball als Religionsersatz nicht unbeachtet gelassen, treten Parallelen zur christlichen Religionsausübung seit dem frühen Mittelalter zutage", erläutert der Chorleiter und Historiker Moritz Tempel in einem Aufsatz über Fangesänge. Religion ist über Jahrhunderte hinweg aber keineswegs eine Kuschelzone gewesen.
Das Stadion steht dem nicht nach. Wir hören: Kampfgesänge, wüste Töne. Moritz Tempel: "Es gibt natürlich im Vergleich zum alltäglichen Umgang miteinander etwas andere Bewertungen, was da noch in Ordnung ist und was dann irgendwie unter der Gürtellinie ist. Die verschiebt sich im Stadion natürlich. Aber eben in einem Rahmen, der dann auch soziologisch erklärbar ist. Nämlich: Wir grenzen uns durch die Diffamierung von anderen Gruppen von diesen ab und bestärken uns dadurch auch gegenseitig."

Kollektivbildende Fangesänge

Liverpool FC-Fans singen beim Pokalspiel gegen West Ham United: You ll Never Walk Alone.
You´ll never walk alone: Dieses Lied singen nicht nur Liverpool-Fans. © IMAGO / Propaganda Photo / IMAGO / David Rawcliffe
Ein entscheidender Punkt: Fangesänge werden fast immer vom Anführer der Ultras initiiert und gleichsam dirigiert. Eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, wie Moritz Tempel schreibt: „Seit den 1990er-Jahren hat sich aus den Fans eine Untergruppe herausgebildet, die sich selbst als Ultras bezeichnen. Anlass der Entstehung nach italienischem Vorbild war hauptsächlich das Bestreben, die zu dieser Zeit schlechte Stimmung in deutschen Fußballstadien zu verbessern.

Das alkoholische Getränk ist wie so’n Übergangsritus, würde man jetzt vielleicht in den Kulturwissenschaften sagen. Von der einen Situation in die andere Situation. Vielleicht auch das Feierabendbier, ist ja auch so ein Beispiel! Jetzt ist der Übergang in die Freizeit das Bier."

Jaya Bowry, Anthropologin

Moritz Tempel: "Wenn man beispielsweise einen Fangesang von den Fans von Bayer 04 Leverkusen hat, ´Ole, ole, wir sind die Nordkurve, wir singen für unseren Bayer und reisen durchs ganze Land´ – da ist die Mannschaft nicht mehr Inhalt. ´Wir´sind die Nordkurve, ´wir´reisen durchs ganze Land! Da ist die interpretierende Fangruppe auch gleichzeitig Adressat des Gesanges. Und das ist neu! Man könnte eigentlich das Geschehen auf dem Rasen aussetzen, unterbrechen oder einen großen Eisernen Vorhang davorhängen, und die Inhalte dieser Art von Fangesängen würden immer noch aufgehen. Und die habe ich eben dann `selbstreferenzielle und kollektivbildende Fangesänge` genannt."

Highlight Stadionwurst

Und damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem der Sport einen falschen Verhaltensanstoß gibt. Zugegeben: Auch Konzerte und Party-Events koppeln vermeintlich gute Laune oft an enthemmten Alkoholkonsum. Aber sie bieten sich nicht allwöchentlich dafür an. Ungleich wichtiger ist allerdings das kulinarische Highlight des Wochenendes: die Stadionwurst. Die ist zwar nicht unbedingt gesund, doch auch nicht gesundheitsschädlich.
Ein Fußballfan des FC Bayern beißt in eine Stadionwurst.
Spielentscheidender Faktor: Stadionwurst. © imago sportfotodienst
Ihre spielbestimmende Dimension sollte man nicht unterschätzen. Jaya Bowry: "Ich hatte zum Beispiel eine Person interviewt, die gesagt hat: ´Ich kauf mir immer meine Wurst, bevor das Spiel beginnt. Und dann setz ich mich hin, und erst wenn der Anpfiff ertönt, kann ich reinbeißen!´" Alles geben, mit vollkommenem Körpereinsatz … Essen und Trinken für den Sieg! Das vielleicht ist die Verbindung zwischen Sport und jenen Leidenschaften, die vom Sport angestoßen werden. Auch Singen, Flitzen und anderen Nebentätigkeiten fordern körperlichen Einsatz.

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