Zwischen Freiheit und Zwang: Der uferlose Sozialstaat

Von Klaus Peter Weinert |
Im 17. Jahrhundert hatte der englische Staatsdenker Thomas Hobbes den Krieg "aller gegen alle" als Naturzustand bezeichnet und ihn als außerstaatlich verstanden. Im Staat sah er eine Ordnung, die durch Verträge zwischen Staat und Bürger die Wirren des Krieges beseitigten und die Lebensverhältnisse berechenbar machten. In unseren modernen Staaten sind dies die Verfassungen, die Ordnung garantieren und dem Staat Grenzen setzen und den Bürgern Rechte gegenüber dem Staat einräumen. Allerdings ist das einmal durch das Parlament beschlossene Gesetz ein Zwangsrecht, das Bürger zum Beispiel zu Steuerzahlungen verpflichtet.
Nun gibt es auch Gesetze, die den Bürger nicht zu Zahlungen verpflichten, sondern Menschen eine Hilfe anbieten, wenn sie unverschuldet in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Die Sozialgesetze sollen diese Aufgabe erfüllen.

In die vermeintliche Sicherheit, die diese Gesetze den Menschen zu geben schienen, hat sich allerdings unbemerkt die Abhängigkeit vom Sozialstaat eingeschlichen. Solange der Staat seine Sozialschuld zahlte, war dies kein Problem; erst als der Staat als Schuldner in Finanznot kam, wurde der Empfänger von Sozialleistungen zur Geisel des Staates. Renten wurden nicht mehr angepasst, die Lasten der Gesundheitsfürsorge erhöht, und die Politik verstärkte insbesondere den Druck auf die Arbeitslosen.

Durch die Monopolstellung des Sozialstaates ist der Bürger mehr denn je abhängig von den Entscheidungen der Politik, die, einmal als Gesetz verkündet, dem Bürger keine andere Wahl lassen, als sich ihnen zu unterwerfen. Ludwig Erhard, der Vater unserer Sozialen Marktwirtschaft, hat einmal geschrieben: "Wenn Menschen von der Sorge gequält sind, was morgen ihr Schicksal sein wird, kann man nicht von Freiheit sprechen." In diesem Sinne sind heute viele Menschen unfrei, weil sie an die Leistungen des Sozialamtes gebunden sind und mit der Ungewissheit leben müssen, ob es für sie auf dem Arbeitsmarkt überhaupt noch eine Chance für ein existenzsicherndes Leben ohne staatliche Fürsorge gibt.

Die Abhängigkeit des Bürgers ist auch durch die Konzentration zahlreicher Lösungsvorschläge der mächtigen Oligopole aus Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und anderen Interessengruppen gewachsen. Sie vertreten mit Nachdruck ihre Interessen, die nicht immer im Einklang mit den Interessen der Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslosen stehen. Blickt man in die Lehrwerke der Ökonomik, besonders der Finanzwissenschaft, dann kann man dort nachlesen, dass das Zusammenspiel der Politik, der Bürokratie, der Interessengruppen tendenziell einen höheren Staatsanteil hervorbringt, ganz offenbar wesentlich in Transferzahlungen wie Subventionen und natürlich auch der Sozialleistungen.

Reine Transferzahlungen bauen aber eher die Bürokratie auf als ab und erzeugen kaum eigene Initiativen, weil sie die vorhandenen Strukturen bewahren und nicht erneuern. Direkte Demokratien – wie die Schweiz oder manche Bundesstaaten der Vereinigten Staaten – zeigen, dass durch Referenden die Bürger ihre Politiker zwingen, Gesetzesvorhaben zu überdenken und ihre Ausgaben am vorhandenen Budget zu orientieren. Die Folge ist nicht nur ein geringerer Einfluss der Lobby, sondern offenbar auch bessere Chancen für die Bürger.

Der Rückbau unseres Sozialstaates als bloßer Transferleistungsstaat ist daher ein anzustrebendes Ziel. Das heißt nicht, der neoliberalen Ideologie zu folgen, die offenbar die Sozialleistungen generell in Frage stellt, immer weitere Kosteneinsparungen zuungunsten der Arbeitslosen fordert oder durch Entlassungen ihre Renditen erhöht.

Es ist ungerecht, den Menschen immer mehr wegzunehmen, sie unter ständigen Druck zu setzen und Gesetze so zu ändern, dass die Anpassungslasten einfach von der Politik weg hin zum Bürger verschoben werden. Wer Bürgern etwas nimmt, der muss ihnen auch etwas geben. Es ist zynisch, zu unterstellen, jeder Bürger habe ausreichend Geld, so dass er Kürzungen problemlos verkraften und nebenbei vielleicht noch ein Unternehmen gründen könne. Das Statistische Bundesamt weist aus, das mehr als sechs Millionen Menschen gleich oder weniger Einkommen haben als zehntausend Euro pro Jahr.

Was nötig wäre, wäre eine genaue Analyse der derzeitigen ökonomischen Situation, die deutlich macht, wie unsere Probleme entstanden sind. Ist es ausschließlich der Sozialstaat, der Schuld trägt? Und ist er tatsächlich schuld am mäßigen Wirtschaftswachstum oder am starken Rückgang der Produktivität seit über zwanzig Jahren? Oder müssen wir Ursachen auch in Versäumnissen der Privatwirtschaft suchen? Gibt es gar ein Systemproblem der Marktwirtschaft?

Mit dem einseitigen Blick nur auf den Sozialstaat, der für alles und jedes schuldig sein soll, werden wir unsere Probleme nicht lösen. Ordnungspolitik ist nicht nur Politik geordneter Staatsfinanzen um jeden Preis, sie ist auch die Politik einer Ordnung der Freiheit für alle und nicht nur für jene, die in einer geldgesteuerten Wirtschaft sowieso viel Macht innehaben. Für diese Freiheit muss der Staat sorgen; er tut es aber nicht, indem er mit einer reformerischen Sozialpolitik Bürger zu Bütteln oder gar Geiseln macht.


Klaus Peter Weinert ist Wirtschafts- und Fachjournalist. Er studierte Germanistik, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Filmwissenschaften. Weinert arbeitet für Rundfunk, Fernsehen und Printmedien.