Zwischen Fotografie und Fotokunst
Einen kompletten Überblick über das Werk des britischen Fotografen Paul Graham bietet das Essener Folkwang Museum. Elf große Werkkomplexe mit insgesamt etwa 150 Bildern zeigen, wie Grahams Schaffen sich seit Beginn der 80er Jahre entwickelt hat: im Spannungsfeld zwischen sozialdokumentarischer Fotografie, die traditionell in England eine wichtige Rolle spielt, und Fotokunst.
Auf einer langen Bank sind wartende Menschen aufgereiht, die dunklen Türen im Hintergrund sind verschlossen, die Neonröhren an der Decke tauchen das Bild in diffuses, grünliches Licht, endlos dehnt sich der Fußboden, der den Betrachter von den Wartenden trennt.
"Beyond Caring" - "Jenseits der Zuwendung" nannte der Fotograf Paul Graham die Bilderserie, der dieses Motiv entstammt. 1984, noch ganz am Anfang seiner Karriere, nahm er sie auf den tristen Fluren britischer Arbeitsämter auf und reihte sich damit ein in die sozialdokumentarische und kritische Fotografie, die in Großbritannien eine bedeutende Tradition hat.
Graham allerdings brach mit einem ungeschriebenen Gesetz: er fotografierte nicht schwarz-weiß, sondern in Farbe. Im Zentrum seines Bildes steht ein Kleinkind in einem rosa Anzug.
"Ein ernsthafter Fotograf, der sich für soziale Fragen interessierte, fotografierte schwarz-weiß. Die Farbe war ein Regelverstoß. Dafür wurde ich kritisiert, weil pink so eine fröhliche Farbe sei. Das Bild wäre viel stärker in schwarz-weiß. Heute fotografiert jeder in Farbe, aber damals wurde das als Kritik formuliert."
Paul Graham, damals Mitte 20, gefiel die Provokation, und er erinnert daran, dass es die Zeit von Punk und New Wave war, in der Protest auf jeden Fall angesagt war. Schon in seiner ersten großen, auch als Fotoband veröffentlichten Arbeit hatte er die Farbe für sich entdeckt: Die Fotodokumentation, entlang der Autobahn A1 entstanden, die die britische Insel von London bis nach Schottland durchzieht, eröffnet die Essener Ausstellung.
Da sieht man die Tankstellen und Raststätten, die Fernfahrer bei der Zigarettenpause, die Brücken, die die Landschaft durchschneiden. Alles aufgenommen mit einer großformatigen Kamera, die ausgestellten Bilder sind Kontaktabzüge der Negative. Nicht einmal mit dem Ausschnitt und dem Format wollte David Graham nachträglich in die abgebildete Wirklichkeit eingreifen. Konsequent holte er auch die Farbigkeit, die man in der Realität wahrnimmt, in seine Bilder hinein.
"Farbe entspricht doch unserer Wahrnehmung. Die Frage müsste genau umgekehrt gestellt werden: Wenn jemand schwarz-weiß fotografiert, warum macht er das? Farben sehen ist natürlich, die Frage ist, warum entschließt sich jemand, die Welt auf eine Skala von Grauwerten zu reduzieren. Darauf kann es gute Antworten geben, aber so müsste man die Frage stellen."
Ein überzeugter Dokumentarist ist Paul Graham bis heute geblieben. Er inszeniert seine Fotos nicht, weder die Menschen noch die Räume oder Gegenstände werden für das Bild arrangiert. Und er interessiert sich auch nicht für die digitale Nachbearbeitung, mit der viele Fotografen heute ein Bild am Computer komponieren.
Dennoch zeigt schon ein flüchtiger Blick durch die zehn Räume der luftig und großzügig gehängten Ausstellung im Folkwang Museum, dass die Bilder sich nicht auf die Sozialreportage reduzieren lassen. Als Kunstwerke stellen sie Anspruch an die Form, strahlen ästhetische Spannung und visuellen Reiz aus, sie konfrontieren den Betrachter mit Fragen und fordern beharrlich dazu auf, die Geschichte im Bild zu entdecken, die Gedanken des Portraitierten zu lesen. Ist das noch dokumentarische Fotografie? Graham hat einen Platz zwischen den Stühlen gefunden, auf dem er sich sichtlich wohlfühlt.
"Es gibt ein Grenzgebiet, da verbindet sich dokumentarischer Stil mit ernsthafter künstlerischer Interpretation und Gestaltung, und das ist eigentlich das Zentrum der Fotografie. Wir gehen in die Welt, wir machen diese Bilder, und Sie, der Betrachter, geben dem zufälligen Geschehen einen Sinn. Das vereinnahmt Sie nicht, das ist offen. Da ist kein spektakulärer Moment, Sie müssen Ihre Sensibilität hineinlegen in eine Ausstellung oder in einen Fotoband."
Auf eine immer komplexere Art und Weise nähern sich die Bilder dieser Realität hinter der sichtbaren Fassade an. Mitten im Nordirland-Konflikt, den er wiederholt in Fotoserien thematisiert hat, nutzt Graham 1994 einen offiziell ausgehandelten Waffenstillstand, um in Nordirland zu fotografieren. Der Begriff gibt der Serie auch den Titel: Ceasefire. Was man sieht, sind faszinierende, malerisch anmutende Studien des Wolkenhimmels über der Insel, mal dramatisch zusammengeballt, mal von verschleiertem Sonnenlicht durchzogen.
Ebenso unausweichliche Fragen stellt die Serie "American Night". Geradezu paradox mutet der Titel an bei einer Serie fast weiß erscheinender Bilder, auf denen das Auge erst nach langsamem Eingewöhnen Einzelheiten erkennt.
Es sind trostlose Szenerien aus dem Leben der Armen und Abgehängten: zersiedelte Vorstädte, schäbige Straßen, aufgegebene Läden, verlassene Bushaltestellen. Zum Verschwinden gebracht durch extreme Überbelichtung. Dazwischen hängen reklameähnliche Bilder des amerikanischen Traums vom schicken Einfamilienhaus, durch den Kontrast zu greller Buntheit übersteigert. Fotografie, zeigt Paul Graham, muss nicht sensationslüstern oder plakativ sein, um sich als politische Kunst zu erweisen.
"Ich denke, alles, was man tun kann, ist die richtigen Fragen zu stellen, diese Fragen sehr scharf zuzuspitzen: Ist das richtig, sollten Leute so behandelt werden?"
Die bislang jüngste Fotoserie zeigt ein neues Thema: die vergehende Zeit. In stillen, unspektakulären Bildern widmet sich Graham dem banalen Alltag: Ein Mann wartet an der Bushaltestelle und raucht, ein Paar trägt Einkäufe aus dem Supermarkt nach Hause. Darin steckt wohl auch eine neue Herausforderung Paul Grahams an seine Zunft. Der entscheidende Augenblick, dem die Fotografen so lange nachgejagt sind - Graham fragt, ob es ihn überhaupt gibt.
"Das ist eine Reflexion über den 'Moment davor' und den 'Moment danach'. Das Leben fließt, es ist vorher und nachher interessant, nicht nur in diesem einen Augenblick."
Paul Graham, Fotografien 1981 - 2006,
24.1. - 5.4.2009,
Essen, Museum Folkwang
"Beyond Caring" - "Jenseits der Zuwendung" nannte der Fotograf Paul Graham die Bilderserie, der dieses Motiv entstammt. 1984, noch ganz am Anfang seiner Karriere, nahm er sie auf den tristen Fluren britischer Arbeitsämter auf und reihte sich damit ein in die sozialdokumentarische und kritische Fotografie, die in Großbritannien eine bedeutende Tradition hat.
Graham allerdings brach mit einem ungeschriebenen Gesetz: er fotografierte nicht schwarz-weiß, sondern in Farbe. Im Zentrum seines Bildes steht ein Kleinkind in einem rosa Anzug.
"Ein ernsthafter Fotograf, der sich für soziale Fragen interessierte, fotografierte schwarz-weiß. Die Farbe war ein Regelverstoß. Dafür wurde ich kritisiert, weil pink so eine fröhliche Farbe sei. Das Bild wäre viel stärker in schwarz-weiß. Heute fotografiert jeder in Farbe, aber damals wurde das als Kritik formuliert."
Paul Graham, damals Mitte 20, gefiel die Provokation, und er erinnert daran, dass es die Zeit von Punk und New Wave war, in der Protest auf jeden Fall angesagt war. Schon in seiner ersten großen, auch als Fotoband veröffentlichten Arbeit hatte er die Farbe für sich entdeckt: Die Fotodokumentation, entlang der Autobahn A1 entstanden, die die britische Insel von London bis nach Schottland durchzieht, eröffnet die Essener Ausstellung.
Da sieht man die Tankstellen und Raststätten, die Fernfahrer bei der Zigarettenpause, die Brücken, die die Landschaft durchschneiden. Alles aufgenommen mit einer großformatigen Kamera, die ausgestellten Bilder sind Kontaktabzüge der Negative. Nicht einmal mit dem Ausschnitt und dem Format wollte David Graham nachträglich in die abgebildete Wirklichkeit eingreifen. Konsequent holte er auch die Farbigkeit, die man in der Realität wahrnimmt, in seine Bilder hinein.
"Farbe entspricht doch unserer Wahrnehmung. Die Frage müsste genau umgekehrt gestellt werden: Wenn jemand schwarz-weiß fotografiert, warum macht er das? Farben sehen ist natürlich, die Frage ist, warum entschließt sich jemand, die Welt auf eine Skala von Grauwerten zu reduzieren. Darauf kann es gute Antworten geben, aber so müsste man die Frage stellen."
Ein überzeugter Dokumentarist ist Paul Graham bis heute geblieben. Er inszeniert seine Fotos nicht, weder die Menschen noch die Räume oder Gegenstände werden für das Bild arrangiert. Und er interessiert sich auch nicht für die digitale Nachbearbeitung, mit der viele Fotografen heute ein Bild am Computer komponieren.
Dennoch zeigt schon ein flüchtiger Blick durch die zehn Räume der luftig und großzügig gehängten Ausstellung im Folkwang Museum, dass die Bilder sich nicht auf die Sozialreportage reduzieren lassen. Als Kunstwerke stellen sie Anspruch an die Form, strahlen ästhetische Spannung und visuellen Reiz aus, sie konfrontieren den Betrachter mit Fragen und fordern beharrlich dazu auf, die Geschichte im Bild zu entdecken, die Gedanken des Portraitierten zu lesen. Ist das noch dokumentarische Fotografie? Graham hat einen Platz zwischen den Stühlen gefunden, auf dem er sich sichtlich wohlfühlt.
"Es gibt ein Grenzgebiet, da verbindet sich dokumentarischer Stil mit ernsthafter künstlerischer Interpretation und Gestaltung, und das ist eigentlich das Zentrum der Fotografie. Wir gehen in die Welt, wir machen diese Bilder, und Sie, der Betrachter, geben dem zufälligen Geschehen einen Sinn. Das vereinnahmt Sie nicht, das ist offen. Da ist kein spektakulärer Moment, Sie müssen Ihre Sensibilität hineinlegen in eine Ausstellung oder in einen Fotoband."
Auf eine immer komplexere Art und Weise nähern sich die Bilder dieser Realität hinter der sichtbaren Fassade an. Mitten im Nordirland-Konflikt, den er wiederholt in Fotoserien thematisiert hat, nutzt Graham 1994 einen offiziell ausgehandelten Waffenstillstand, um in Nordirland zu fotografieren. Der Begriff gibt der Serie auch den Titel: Ceasefire. Was man sieht, sind faszinierende, malerisch anmutende Studien des Wolkenhimmels über der Insel, mal dramatisch zusammengeballt, mal von verschleiertem Sonnenlicht durchzogen.
Ebenso unausweichliche Fragen stellt die Serie "American Night". Geradezu paradox mutet der Titel an bei einer Serie fast weiß erscheinender Bilder, auf denen das Auge erst nach langsamem Eingewöhnen Einzelheiten erkennt.
Es sind trostlose Szenerien aus dem Leben der Armen und Abgehängten: zersiedelte Vorstädte, schäbige Straßen, aufgegebene Läden, verlassene Bushaltestellen. Zum Verschwinden gebracht durch extreme Überbelichtung. Dazwischen hängen reklameähnliche Bilder des amerikanischen Traums vom schicken Einfamilienhaus, durch den Kontrast zu greller Buntheit übersteigert. Fotografie, zeigt Paul Graham, muss nicht sensationslüstern oder plakativ sein, um sich als politische Kunst zu erweisen.
"Ich denke, alles, was man tun kann, ist die richtigen Fragen zu stellen, diese Fragen sehr scharf zuzuspitzen: Ist das richtig, sollten Leute so behandelt werden?"
Die bislang jüngste Fotoserie zeigt ein neues Thema: die vergehende Zeit. In stillen, unspektakulären Bildern widmet sich Graham dem banalen Alltag: Ein Mann wartet an der Bushaltestelle und raucht, ein Paar trägt Einkäufe aus dem Supermarkt nach Hause. Darin steckt wohl auch eine neue Herausforderung Paul Grahams an seine Zunft. Der entscheidende Augenblick, dem die Fotografen so lange nachgejagt sind - Graham fragt, ob es ihn überhaupt gibt.
"Das ist eine Reflexion über den 'Moment davor' und den 'Moment danach'. Das Leben fließt, es ist vorher und nachher interessant, nicht nur in diesem einen Augenblick."
Paul Graham, Fotografien 1981 - 2006,
24.1. - 5.4.2009,
Essen, Museum Folkwang