Zwischen den Fronten
Transnistrien hat sich Anfang der 90er-Jahre von der Republik Moldau losgesagt. Es hat nur 600.000 Einwohner, aber einen eigenen Präsidenten, ein Parlament und sogar eine eigene Währung. Doch es wird von keinem Staat der Welt anerkannt und nur von Russland unterstützt. Alle internationalen Versuche, in dem Konflikt zwischen Transnistrien und der Republik Moldau zu vermitteln, liefen bisher ins Leere.
Tiraspol: Mit offiziell knapp 170.000 Einwohnern die Hauptstadt von Transnistrien. Im Park fahren Kinder Tretauto, im Slalom um gelbe Hütchen herum. Mütter und Großmütter sitzen auf hellblauen Bänken und schauen den Kleinen zu. Junge Paare flanieren. Ein Idyll wie in einer sowjetischen Kleinstadt der 70er-Jahre.
Quer durch das Stadtzentrum führt die Straße des 25. Oktober – benannt nach der Oktoberrevolution von 1917. Deren Anführer, Vladimir Iljitsch Lenin, blickt, in Granit gehauen, von einem haushohen Sockel auf den kargen Verkehr: Ein paar sowjetische Kleinwagen, dazwischen schwarze Geländewagen mit verdunkelten Scheiben. Auf dem Mittelstreifen ein Plakat: Hammer und Sichel im Ährenkranz, die aufgehende Sonne, der Sowjetstern. Symbole Transnistriens. Ein Transparent verkündet: "Unsere Kraft liegt in der Einheit mit Russland."
Seit nunmehr bald 20 Jahren sucht Transnistrien die internationale Anerkennung als unabhängiger Staat; zugleich aber strebt es einen Anschluss an Russland an. Zwischen Transnistrien und Russland liegt zwar noch die Ukraine, aber dennoch hat sich die überwältigende Mehrheit der Transnistrier für genau diesen Weg ausgesprochen: Für die Unabhängigkeit und den anschließenden Beitritt zur Russischen Föderation. Die Regierung von Transnistrien präsentiert ein entsprechendes Referendum von 2006. Zustimmung: 97 Prozent der Wahlbeteiligten.
In der Parallelstraße, die nach dem Revolutionshelden Sverdlov benannt ist, steht das Außenministerium Transnistriens. Der zweistöckige Bau ist erst wenige Jahre alt. Die Räume im Erdgeschoss sind leer. Im oberen Stock wartet der stellvertretende Außenminister, Sergej Simonenko. Der 37-Jährige trägt Vollbart und wirkt gemütlich. Er erklärt die paradoxe Außenpolitik Transnistriens so:
"Für mich kommt Transnistrien an erster Stelle, an zweiter Stelle kommt Russland. Denn ich besitze auch die russische Staatsbürgerschaft. Ich will mithelfen, dass mein Staat ein anerkanntes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft wird, ob es nun ein Jahr dauert oder zehn."
Simonenko ist Russe. Seine Eltern sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus Russland nach Transnistrien gekommen. Die Sowjetmacht schickte damals Zehntausende Russen an den Dnjestr, um dort Fabriken und Betriebe aufzubauen. Offiziell leben in Transnistrien auch viele Ukrainer und Moldauer. Sie sprechen Moldauisch, eine Art rumänischen Dialekt. Aber auf den Straßen Transnistriens hört man nur Russisch. Und die Verbindungen nach Moskau sind nach wie vor eng. Transnistrische Rentner zum Beispiel bekommen jeden Monat 15 Dollar aus Moskau. Der Kreml zahlt das aus der Portokasse. In Transnistrien aber ist das viel Geld. Die Menschen wissen die Hilfe aus Moskau zu schätzen:
"Russland hat uns in Dürrezeiten und bei Hochwasser gerettet. Die Menschen sehen, wer uns wirklich hilft. Wir revanchieren uns, indem wir stolz darauf sind, dass hier Russen leben: Patrioten, die bereit sind, für die russischen Interessen auf diesem kleinen Fleckchen Erde einzustehen, auf 4000 Quadratkilometer."
Die "russischen Interessen" bestehen vor allem darin, dass das kleine Transnistrien den Konflikt mit dem Mutterland, der Republik Moldau, aufrechterhält und Russland so einen Fuß in der Tür behält. Denn die Republik Moldau entzieht sich zunehmend dem russischen Einfluss. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion wollten Nationalisten den Anschluss des Landes an Rumänien. Später kamen Kommunisten an die Macht. Auch sie gaben sich vordergründig europäisch, ordneten sich Moskau nicht unter. Und seit gut einem Jahr regiert ein westlich orientiertes Parteienbündnis die Republik Moldau, die "Allianz für eine europäische Integration." Ihr Ziel: Der Beitritt der Republik Moldau zur EU. Die Allianz hat sich zwar gerade jetzt vor den anstehenden Wahlen wieder aufgelöst. Doch ganz egal, wer die Republik Moldau künftig regieren wird - Russland kann die Entwicklung des Landes bremsen, indem es die Separatisten in Transnistrien unterstützt.
Es tut das auch militärisch. Die russische Armee hat 1992 den bewaffneten Konflikt zwischen moldauischen Regierungstruppen und transnistrischen Kämpfern beendet. Seitdem hat Russland eine Friedenstruppe in Transnistrien stationiert. Wenn die russischen Soldaten nicht wären, würden die Moldauer wieder zu den Waffen greifen, behauptet der stellvertretende Außenminister Sergej Simonenko:
"In den 18 Jahren, seit die Mission hier ist, ist nicht ein Friedenssoldat umgekommen und nicht ein friedlicher Bürger. Manch einer versucht, die Tatsachen zu verdrehen und meint, hier müssten internationale Beobachter herkommen. Aber für uns ist der russische Soldat ein Garant der Stabilität."
Der "russische Soldat" steht wenige Kilometer von Transnistriens Hauptstadt Tiraspol entfernt an der Brücke über den Dnjestr. Der Fluss trennt Transnistrien von der Republik Moldau. Ein olivgrünes Netz verdeckt einen Panzer. Zwei bewaffnete Uniformierte beobachten den Verkehr. Die Autos tragen transnistrische, ukrainische und moldauische Kennzeichen. Odessa ist nicht weit, und die kürzeste Strecke aus der moldauischen Hauptstadt Chisinau in die ukrainische Hafenstadt und ans Schwarze Meer führt durch Transnistrien. Die Menschen können frei hin- und herfahren – trotz des Konflikts. Sie tun das häufig. Viele haben Verwandte auf der jeweils anderen Seite.
Nur 200 Meter weiter geht ein Mann über die Straße, auf einen anderen Panzer zu. Das Fahrzeug kam im Transnistrienkonflikt 1992 zum Einsatz, jetzt erinnert es, frisch gestrichen, an die Opfer des Krieges. Dahinter ragen strahlenförmige Betonelemente in die Höhe, darauf die Namen der Toten. Etwa 800 waren es auf transnistrischer Seite.
Grigorij Agre ist klein, drahtig, trägt eine verspiegelte Sonnenbrille. Sein schütteres Haar ist grau. Agre war sein Leben lang Soldat. Im Krieg kämpfte er auf transnistrischer Seite. Jetzt leitet er die Vereinigung der Vaterlandsverteidiger:
"Ich bringe meine Enkel hierher. Wir legen Blumen ab und verneigen uns vor den Toten. Die jungen Leute müssen wissen, wofür ihre Väter und Großväter gestorben sind. Ich hätte gern, dass meine Enkel auch zum Militär gehen. Das liegt bei uns in der Familie. Ich spüre einen starken Patriotismus und Verantwortung für Transnistrien."
Auch Grigorij Agre ist Russe. Als Anfang der 90er-Jahre moldauische Nationalisten den Anschluss an Rumänien forderten und Rumänisch zur Staatssprache erklärten, ging Agre – wie viele andere russischsprachige Bewohner Transnistriens – auf die Barrikaden. Sie fürchteten antirussische Pogrome, fühlten sich benachteiligt. Der Waffengang sei nötig gewesen, meint er:
"Wenn wir uns 1992 nicht verteidigt hätten, wären wir jetzt nicht mehr am Leben.
Ich habe in Afghanistan gekämpft und durfte mir danach aussuchen, wo ich den Rest meiner Dienstzeit absolvieren wollte. So bin ich in die Moldauische Sowjetrepublik gekommen. Warum sollte ich, der ich 26 Jahre beim Militär gedient habe und die ganze Sowjetunion verteidigt habe, in Afghanistan, an der chinesischen Grenze, warum sollte ich mich von hier verjagen lassen?"
Agre rückt sein Hosenbund zurecht, fährt sich über die Stirn. Eine Wiedervereinigung Transnistriens mit dem Mutterland, der Republik Moldau, steht für ihn außer Frage. Noch immer würden die Russen in der Republik Moldau unterdrückt, meint er.
"Alle Verordnungen, die von der moldauischen Regierung ausgegeben werden, gehen an der russischen Bevölkerung vorbei. Die sagen zwar immer, wir seien ein Ganzes und unteilbar. Aber seit 20 Jahren bleiben alle Hilfsgelder von der Europäischen Union oder von den Vereinigten Staaten für die Republik Moldau in Chisinau hängen. Transnistrien hat nicht eine Kopeke erhalten. Das ist ja wohl Diskriminierung. Aber wir wollen ja auch gar keine Hilfe. Wir kommen auch allein zurecht."
Dann bricht er auf. Grigorij Agre muss zum Zahnarzt, seine Schneidezähne richten lassen. Er lässt das in Transnistrien machen. Für ernstere Krankheiten dagegen fahren die Transnistrier nach Chisinau. Auch Agre. So weit reicht sein Patriotismus dann doch nicht.
Das Republikanische Krankenhaus in Tiraspol. Jelena Tsaralunga sitzt vor einem Tisch und sortiert Reagenzgläser mit Blutproben. Ihr weißer Kittel ist blitzsauber. Die langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. In der Ecke steht ein Apparat. Seine digitale Anzeige verrät: Das Gerät wärmt sich gerade auf.
"Das Gerät macht Blutanalysen. Ich gebe jetzt den Code des Patienten ein. Der steht auf dem Reagenzglas. Das Gerät rechnet alles aus und gibt dann einen Zettel mit den Daten heraus. Es reinigt sich selbst, und am Ende schaltet es sich auch noch von selbst aus. Die Arbeit ist wirklich nicht kompliziert."
Jelena Tsaralunga ist Laborärztin. Sie hängt ein Reagenzglas in die Halterung. Blitzschnell saugt der Apparat das Blut auf und spuckt wenige Augenblicke später einen Zettel mit Diagrammen und Ziffern aus.
"Hier sind die Werte. Sie sind alle im normalen Bereich."
Die Station dürfte eine der am besten ausgestatteten in ganz Transnistrien sein. Hier werden HIV- und Aidspatienten untersucht und erhalten Medikamente. Ärzte ohne Grenzen haben die Station ausgestattet. Der Global Fund, eine andere internationale Hilfsorganisation, deckt die laufenden Kosten. Durch die Fenster sind die anderen Gebäude zu sehen: Grobe Steine unverputzt. Verwitterte Holztüren. Hinter schief hängenden Gardinen stecken Krankenschwestern die Köpfe zusammen. Jelena Tsaralunga arbeitet seit einem Jahr auf der Aids-Station. Davor war sie in einem Kinderkrankenhaus.
"Das Team hier ist toll. Wir verstehen uns gut, und alle arbeiten gern. Der Lohn ist allerdings nicht besser als anderswo. Wir bekommen ungefähr 150 Dollar im Monat. Was ist das schon für ein Lohn? Deshalb arbeiten wir alle in Doppelschichten."
Die Immunschwäche AIDS ist in der Schwarzmeerregion besonders stark verbreitet. Die benachbarte Ukraine hat die höchste Infektionsrate in Europa. Und das Virus breitet sich auch in Transnistrien immer schneller aus. Um die Medikamente zu bekommen, muss der Stationsarzt Alexandr Gontschar regelmäßig hinüber nach Chisinau fahren und sich mit den moldauischen Ärzten zusammensetzen. Politiker und Diplomaten hoffen, dass dieser Zwang zur Kooperation die Transnistrier langfristig dazu bringt, ihren Unabhängigkeitsdrang aufzugeben. Der Stationsarzt guckt etwas gequält. Auf keinen Fall möchte er sich politisch äußern.
"Wir befassen uns wirklich nur mit unseren fachlichen Fragen, mit der Verteilung der humanitären Hilfe. Wie die staatlichen Strukturen zusammenarbeiten, das müssen die Politiker entscheiden."
Doch genau das ist das Problem. Zumindest, wenn es nach Nikolaj geht.
Der 28-Jährige sitzt am Abend mit Freunden und zwei kleinen Kindern in einem Park in Rybnitza. Die Industriestadt liegt etwa 120 Kilometer von Tiraspol entfernt Richtung Norden. Da es weder Kinos noch Theater gibt und Barbesuche für die meisten Menschen hier unerschwinglich sind, treffen sich die Leute in der Regel einfach im Freien. Nikolaj meint, ohne die Politiker wäre der Transnistrienkonflikt längst gelöst:
"Wir kommen gut mit den Moldauern aus. Nur die Politiker beschäftigen sich mit dem Unfug. Wir haben Freunde und auch viele Verwandte auf der anderen Seite. Auf dem anderen Flussufer. Wir fahren oft hin. Und sie besuchen uns auch. Das funktioniert alles ausgezeichnet."
Nikolaj macht gerade ein paar Tage frei. Er verdient sein Geld auf Baustellen im Ausland. Um reisen zu können, hat er, wie die meisten hier, neben dem transnistrischen Pass noch einen russischen.
"Niemand hier hat feste Arbeit. Alle wursteln sich irgendwie durch. Die meisten fahren regelmäßig für ein paar Wochen ins Ausland, arbeiten dort auf dem Bau. Ich war schon überall in Russland. Vor kurzem übrigens auch mal in der Republik Moldau, in Chisinau. Echt. Für uns spielt der Konflikt überhaupt keine Rolle."
Und trotzdem, glaubt Nikolaj, wird der Transnistrienkonflikt noch lange weiter bestehen.
Quer durch das Stadtzentrum führt die Straße des 25. Oktober – benannt nach der Oktoberrevolution von 1917. Deren Anführer, Vladimir Iljitsch Lenin, blickt, in Granit gehauen, von einem haushohen Sockel auf den kargen Verkehr: Ein paar sowjetische Kleinwagen, dazwischen schwarze Geländewagen mit verdunkelten Scheiben. Auf dem Mittelstreifen ein Plakat: Hammer und Sichel im Ährenkranz, die aufgehende Sonne, der Sowjetstern. Symbole Transnistriens. Ein Transparent verkündet: "Unsere Kraft liegt in der Einheit mit Russland."
Seit nunmehr bald 20 Jahren sucht Transnistrien die internationale Anerkennung als unabhängiger Staat; zugleich aber strebt es einen Anschluss an Russland an. Zwischen Transnistrien und Russland liegt zwar noch die Ukraine, aber dennoch hat sich die überwältigende Mehrheit der Transnistrier für genau diesen Weg ausgesprochen: Für die Unabhängigkeit und den anschließenden Beitritt zur Russischen Föderation. Die Regierung von Transnistrien präsentiert ein entsprechendes Referendum von 2006. Zustimmung: 97 Prozent der Wahlbeteiligten.
In der Parallelstraße, die nach dem Revolutionshelden Sverdlov benannt ist, steht das Außenministerium Transnistriens. Der zweistöckige Bau ist erst wenige Jahre alt. Die Räume im Erdgeschoss sind leer. Im oberen Stock wartet der stellvertretende Außenminister, Sergej Simonenko. Der 37-Jährige trägt Vollbart und wirkt gemütlich. Er erklärt die paradoxe Außenpolitik Transnistriens so:
"Für mich kommt Transnistrien an erster Stelle, an zweiter Stelle kommt Russland. Denn ich besitze auch die russische Staatsbürgerschaft. Ich will mithelfen, dass mein Staat ein anerkanntes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft wird, ob es nun ein Jahr dauert oder zehn."
Simonenko ist Russe. Seine Eltern sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus Russland nach Transnistrien gekommen. Die Sowjetmacht schickte damals Zehntausende Russen an den Dnjestr, um dort Fabriken und Betriebe aufzubauen. Offiziell leben in Transnistrien auch viele Ukrainer und Moldauer. Sie sprechen Moldauisch, eine Art rumänischen Dialekt. Aber auf den Straßen Transnistriens hört man nur Russisch. Und die Verbindungen nach Moskau sind nach wie vor eng. Transnistrische Rentner zum Beispiel bekommen jeden Monat 15 Dollar aus Moskau. Der Kreml zahlt das aus der Portokasse. In Transnistrien aber ist das viel Geld. Die Menschen wissen die Hilfe aus Moskau zu schätzen:
"Russland hat uns in Dürrezeiten und bei Hochwasser gerettet. Die Menschen sehen, wer uns wirklich hilft. Wir revanchieren uns, indem wir stolz darauf sind, dass hier Russen leben: Patrioten, die bereit sind, für die russischen Interessen auf diesem kleinen Fleckchen Erde einzustehen, auf 4000 Quadratkilometer."
Die "russischen Interessen" bestehen vor allem darin, dass das kleine Transnistrien den Konflikt mit dem Mutterland, der Republik Moldau, aufrechterhält und Russland so einen Fuß in der Tür behält. Denn die Republik Moldau entzieht sich zunehmend dem russischen Einfluss. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion wollten Nationalisten den Anschluss des Landes an Rumänien. Später kamen Kommunisten an die Macht. Auch sie gaben sich vordergründig europäisch, ordneten sich Moskau nicht unter. Und seit gut einem Jahr regiert ein westlich orientiertes Parteienbündnis die Republik Moldau, die "Allianz für eine europäische Integration." Ihr Ziel: Der Beitritt der Republik Moldau zur EU. Die Allianz hat sich zwar gerade jetzt vor den anstehenden Wahlen wieder aufgelöst. Doch ganz egal, wer die Republik Moldau künftig regieren wird - Russland kann die Entwicklung des Landes bremsen, indem es die Separatisten in Transnistrien unterstützt.
Es tut das auch militärisch. Die russische Armee hat 1992 den bewaffneten Konflikt zwischen moldauischen Regierungstruppen und transnistrischen Kämpfern beendet. Seitdem hat Russland eine Friedenstruppe in Transnistrien stationiert. Wenn die russischen Soldaten nicht wären, würden die Moldauer wieder zu den Waffen greifen, behauptet der stellvertretende Außenminister Sergej Simonenko:
"In den 18 Jahren, seit die Mission hier ist, ist nicht ein Friedenssoldat umgekommen und nicht ein friedlicher Bürger. Manch einer versucht, die Tatsachen zu verdrehen und meint, hier müssten internationale Beobachter herkommen. Aber für uns ist der russische Soldat ein Garant der Stabilität."
Der "russische Soldat" steht wenige Kilometer von Transnistriens Hauptstadt Tiraspol entfernt an der Brücke über den Dnjestr. Der Fluss trennt Transnistrien von der Republik Moldau. Ein olivgrünes Netz verdeckt einen Panzer. Zwei bewaffnete Uniformierte beobachten den Verkehr. Die Autos tragen transnistrische, ukrainische und moldauische Kennzeichen. Odessa ist nicht weit, und die kürzeste Strecke aus der moldauischen Hauptstadt Chisinau in die ukrainische Hafenstadt und ans Schwarze Meer führt durch Transnistrien. Die Menschen können frei hin- und herfahren – trotz des Konflikts. Sie tun das häufig. Viele haben Verwandte auf der jeweils anderen Seite.
Nur 200 Meter weiter geht ein Mann über die Straße, auf einen anderen Panzer zu. Das Fahrzeug kam im Transnistrienkonflikt 1992 zum Einsatz, jetzt erinnert es, frisch gestrichen, an die Opfer des Krieges. Dahinter ragen strahlenförmige Betonelemente in die Höhe, darauf die Namen der Toten. Etwa 800 waren es auf transnistrischer Seite.
Grigorij Agre ist klein, drahtig, trägt eine verspiegelte Sonnenbrille. Sein schütteres Haar ist grau. Agre war sein Leben lang Soldat. Im Krieg kämpfte er auf transnistrischer Seite. Jetzt leitet er die Vereinigung der Vaterlandsverteidiger:
"Ich bringe meine Enkel hierher. Wir legen Blumen ab und verneigen uns vor den Toten. Die jungen Leute müssen wissen, wofür ihre Väter und Großväter gestorben sind. Ich hätte gern, dass meine Enkel auch zum Militär gehen. Das liegt bei uns in der Familie. Ich spüre einen starken Patriotismus und Verantwortung für Transnistrien."
Auch Grigorij Agre ist Russe. Als Anfang der 90er-Jahre moldauische Nationalisten den Anschluss an Rumänien forderten und Rumänisch zur Staatssprache erklärten, ging Agre – wie viele andere russischsprachige Bewohner Transnistriens – auf die Barrikaden. Sie fürchteten antirussische Pogrome, fühlten sich benachteiligt. Der Waffengang sei nötig gewesen, meint er:
"Wenn wir uns 1992 nicht verteidigt hätten, wären wir jetzt nicht mehr am Leben.
Ich habe in Afghanistan gekämpft und durfte mir danach aussuchen, wo ich den Rest meiner Dienstzeit absolvieren wollte. So bin ich in die Moldauische Sowjetrepublik gekommen. Warum sollte ich, der ich 26 Jahre beim Militär gedient habe und die ganze Sowjetunion verteidigt habe, in Afghanistan, an der chinesischen Grenze, warum sollte ich mich von hier verjagen lassen?"
Agre rückt sein Hosenbund zurecht, fährt sich über die Stirn. Eine Wiedervereinigung Transnistriens mit dem Mutterland, der Republik Moldau, steht für ihn außer Frage. Noch immer würden die Russen in der Republik Moldau unterdrückt, meint er.
"Alle Verordnungen, die von der moldauischen Regierung ausgegeben werden, gehen an der russischen Bevölkerung vorbei. Die sagen zwar immer, wir seien ein Ganzes und unteilbar. Aber seit 20 Jahren bleiben alle Hilfsgelder von der Europäischen Union oder von den Vereinigten Staaten für die Republik Moldau in Chisinau hängen. Transnistrien hat nicht eine Kopeke erhalten. Das ist ja wohl Diskriminierung. Aber wir wollen ja auch gar keine Hilfe. Wir kommen auch allein zurecht."
Dann bricht er auf. Grigorij Agre muss zum Zahnarzt, seine Schneidezähne richten lassen. Er lässt das in Transnistrien machen. Für ernstere Krankheiten dagegen fahren die Transnistrier nach Chisinau. Auch Agre. So weit reicht sein Patriotismus dann doch nicht.
Das Republikanische Krankenhaus in Tiraspol. Jelena Tsaralunga sitzt vor einem Tisch und sortiert Reagenzgläser mit Blutproben. Ihr weißer Kittel ist blitzsauber. Die langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. In der Ecke steht ein Apparat. Seine digitale Anzeige verrät: Das Gerät wärmt sich gerade auf.
"Das Gerät macht Blutanalysen. Ich gebe jetzt den Code des Patienten ein. Der steht auf dem Reagenzglas. Das Gerät rechnet alles aus und gibt dann einen Zettel mit den Daten heraus. Es reinigt sich selbst, und am Ende schaltet es sich auch noch von selbst aus. Die Arbeit ist wirklich nicht kompliziert."
Jelena Tsaralunga ist Laborärztin. Sie hängt ein Reagenzglas in die Halterung. Blitzschnell saugt der Apparat das Blut auf und spuckt wenige Augenblicke später einen Zettel mit Diagrammen und Ziffern aus.
"Hier sind die Werte. Sie sind alle im normalen Bereich."
Die Station dürfte eine der am besten ausgestatteten in ganz Transnistrien sein. Hier werden HIV- und Aidspatienten untersucht und erhalten Medikamente. Ärzte ohne Grenzen haben die Station ausgestattet. Der Global Fund, eine andere internationale Hilfsorganisation, deckt die laufenden Kosten. Durch die Fenster sind die anderen Gebäude zu sehen: Grobe Steine unverputzt. Verwitterte Holztüren. Hinter schief hängenden Gardinen stecken Krankenschwestern die Köpfe zusammen. Jelena Tsaralunga arbeitet seit einem Jahr auf der Aids-Station. Davor war sie in einem Kinderkrankenhaus.
"Das Team hier ist toll. Wir verstehen uns gut, und alle arbeiten gern. Der Lohn ist allerdings nicht besser als anderswo. Wir bekommen ungefähr 150 Dollar im Monat. Was ist das schon für ein Lohn? Deshalb arbeiten wir alle in Doppelschichten."
Die Immunschwäche AIDS ist in der Schwarzmeerregion besonders stark verbreitet. Die benachbarte Ukraine hat die höchste Infektionsrate in Europa. Und das Virus breitet sich auch in Transnistrien immer schneller aus. Um die Medikamente zu bekommen, muss der Stationsarzt Alexandr Gontschar regelmäßig hinüber nach Chisinau fahren und sich mit den moldauischen Ärzten zusammensetzen. Politiker und Diplomaten hoffen, dass dieser Zwang zur Kooperation die Transnistrier langfristig dazu bringt, ihren Unabhängigkeitsdrang aufzugeben. Der Stationsarzt guckt etwas gequält. Auf keinen Fall möchte er sich politisch äußern.
"Wir befassen uns wirklich nur mit unseren fachlichen Fragen, mit der Verteilung der humanitären Hilfe. Wie die staatlichen Strukturen zusammenarbeiten, das müssen die Politiker entscheiden."
Doch genau das ist das Problem. Zumindest, wenn es nach Nikolaj geht.
Der 28-Jährige sitzt am Abend mit Freunden und zwei kleinen Kindern in einem Park in Rybnitza. Die Industriestadt liegt etwa 120 Kilometer von Tiraspol entfernt Richtung Norden. Da es weder Kinos noch Theater gibt und Barbesuche für die meisten Menschen hier unerschwinglich sind, treffen sich die Leute in der Regel einfach im Freien. Nikolaj meint, ohne die Politiker wäre der Transnistrienkonflikt längst gelöst:
"Wir kommen gut mit den Moldauern aus. Nur die Politiker beschäftigen sich mit dem Unfug. Wir haben Freunde und auch viele Verwandte auf der anderen Seite. Auf dem anderen Flussufer. Wir fahren oft hin. Und sie besuchen uns auch. Das funktioniert alles ausgezeichnet."
Nikolaj macht gerade ein paar Tage frei. Er verdient sein Geld auf Baustellen im Ausland. Um reisen zu können, hat er, wie die meisten hier, neben dem transnistrischen Pass noch einen russischen.
"Niemand hier hat feste Arbeit. Alle wursteln sich irgendwie durch. Die meisten fahren regelmäßig für ein paar Wochen ins Ausland, arbeiten dort auf dem Bau. Ich war schon überall in Russland. Vor kurzem übrigens auch mal in der Republik Moldau, in Chisinau. Echt. Für uns spielt der Konflikt überhaupt keine Rolle."
Und trotzdem, glaubt Nikolaj, wird der Transnistrienkonflikt noch lange weiter bestehen.