Zwischen Anpassung und Ausgrenzung

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
Jüdische Soldaten sind immer noch eine Minderheit in der Bundeswehr – aber es werden mehr, und sie setzen sich bewusst mit der Rolle auseinander, die jüdische Soldaten in den deutschen Armeen der Vergangenheit gespielt haben.
Ein ganz „normales“ Jahr – ohne größere Katastrophen, aber durchaus mit einigen Glanzlichtern: In den Niederlanden heiratet die Thronfolgerin einen deutschen Diplomaten, Mary Quants Minirock bleibt Modeschlager Nummer eins, Al Martino bringt mit seinem Ohrwurm „Spanish Eyes“ die Herzen zum Schmelzen …

… und in Hannover erhält der Abiturient Michael Fürst am 3. Oktober 1966 seinen Einberufungsbescheid zu einer Ausbildungskompanie beim Fallschirmjägerbataillon 313 nach Wildeshausen bei Bremen. Einen Bescheid, dem er, wie viele seiner Altersgenossen auch, Folge leistet.

Ganz normal eben! Ganz normal? Nein, nicht so ganz. Denn Michael Fürst ist Jude. Und müsste folglich nicht „zum Bund“ gehen:

„Von den damals gleichaltrigen Juden in der Bundesrepublik Deutschland wurde ich für verrückt gehalten, weil ich freiwillig zur Bundeswehr ging. Als Kind von Verfolgten des Naziregimes hätte ich mich jederzeit freistellen lassen können.“

Notiert er später dazu. Doch dass sein Entschluss alles andere als „normal“ ist, zeigt sich, als ihm klar wird, dass er der erste nach dem Krieg geborene Jude ist, der freiwillig zur Bundeswehr geht.

„Ich habe meine zwei Jahre beim Fallschirmjägerbataillon 313 in Wildeshausen nie bereut.“

Ganz ähnlich sieht das damals wohl auch Rainer Hoffmann, Jahrgang 1946, heute Oberstleutnant der Reserve und stellvertretender Vorsitzender des Gemeinderates der Jüdischen Gemeinde Duisburg. Er rückt wenige Monate nach Michael Fürst in die Truppe ein:

„Ich bin von Geburt Berliner. Ich habe 1958 das Chruschtschow-Ultimatum mitgemacht, 1961 die Mauer – für mich war von Anfang an klar, dass ein starker Staat eine starke Armee braucht. Und ich halte diesen Staat nach wie vor für verteidigungswürdig. Von daher war’s für mich keine Frage, auch in einer deutschen Armee zu dienen.“

Was Rainer Hoffmann und Michael Fürst hier berichten, sind ungewöhnliche Geschichten. Dass damals, vor rund 40 Jahren, junge deutsche Juden beschlossen, zur Bundeswehr zu gehen – das sorgte in Familie und Freundeskreis durchaus für Stirnrunzeln. War doch so kurz nach Kriegsende gerade am Thema „Jüdische Soldaten in deutschen Armeen“ der nachhaltige Bruch im deutsch-jüdischen Verhältnis abzulesen.

Michael Berger: „'Alle Bewohner des Staates sind geborene Verteidiger desselben.‘ Mit diesen Worten begann Gerhard von Scharnhorst im Jahre 1807 seine Denkschrift über die Bildung einer Reservearmee, die zur Grundlage der ab 1814 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht in Preußen wurde. Herkunft und Religion waren in diesem Kontext von untergeordneter Bedeutung. So bezog Scharnhorst bei seinen Überlegungen unterschiedslos alle Staatsbürger und damit erstmalig auch die Bürger jüdischen Glaubens in eine militärische Dienstpflicht mit ein.“

Herkunft und Religion, so der Militärhistoriker Hauptmann Michael Berger vom „Bund Jüdischer Soldaten“, waren in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Bei seinen Überlegungen nämlich bezog Scharnhorst alle Staatsbürger in eine militärische Dienstpflicht ein. Und damit erstmals auch die jüdischen Bürger Preußens.

Und die kämpften seit Beginn ihrer bürgerlichen Gleichstellung: in den Freiheitskriegen gegen Napoleon, im Feldzug Preußens und Österreichs gegen Dänemark, im Preußisch-Österreichischen und im Deutsch-Französischen Krieg. Sie kämpften und fielen, wurden ausgezeichnet und verwundet.

Joseph Zippes heißt der Knirps. Er hat gerade seine Bar-Mitzwah gefeiert und – ist ganze 13 Jahre alt: Der jüngste Kriegsfreiwillige in den blutigen Annalen des Ersten Weltkriegs. In den Wirren kurz vor Kriegsende 1918 gelingt es ihm, sich unter die Rekruten zu mischen und noch mit ins Feld zu ziehen. Dafür zahlt er einen schrecklichen Preis: Beide Beine werden ihm abgeschossen.

Die Kriegsbegeisterung, die bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges weite Teile der deutschen Bevölkerung in einen Siegestaumel versetzt, löst auch bei den deutschen Juden eine Welle von Patriotismus aus. Alle großen jüdischen Organisationen rufen ihre Mitglieder als Freiwillige zu den Fahnen. So gibt der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ den ausrückenden Soldaten die Losung mit auf den Weg:


„Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen ...“

Michael Berger: „So sahen viele Juden die Chance, durch ihr militärisches Engagement gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Der Historiker Golo Mann wies später darauf hin, dass es nichts Deutscheres gegeben habe als die jüdischen Freiwilligen des Ersten Weltkriegs. Ohne Zweifel hat die nationale Begeisterung jüdischer Soldaten und Offiziere zuletzt im Ersten Weltkrieg für Respekt und Anerkennung bei vielen ihrer nichtjüdischen Kameraden gesorgt.“

Doch während draußen die jüdischen Soldaten für ihr deutsches Vaterland kämpfen, verwundet und getötet werden, werden ihr Patriotismus und ihre Opferbereitschaft in der Heimat bitter verhöhnt. Etwa in Form eines widerwärtigen „Gedichts“ mit dem Titel „Die Juden im Weltkrieg“. Das „Werk“ eines anonymen Verfassers hat unerträglich viele Strophen. Sein Kern ist die Behauptung, die deutschen Juden seien Drückeberger, die sich überall herumtrieben, nur eben nicht im Schützengraben. Jede Strophe endet mit dem Refrain:

„Überall grinst ihr Gesicht,
Nur im Schützengraben nicht ...“


12.000 von insgesamt 96.000 jüdischen Soldaten fallen im Ersten Weltkrieg.
35.000 kehren zurück – viele von ihnen hochdekoriert. Geholfen hat ihnen das nicht. So erzählt Rainer Hoffmann mit Blick auf die eigene Familiengeschichte:

„Ich hab einen Großonkel, der im Ersten Weltkrieg gedient hat, stolzer Träger des Eisernen Kreuzes war, auch aktives Mitglied im ‚Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten‘. Es hat ihm allerdings nichts genützt, er ist dann 1944 deportiert worden und ist nicht zurückgekommen.“

Tatsächlich sei, so Michael Berger, das Verhältnis der deutschen Streitkräfte zu den jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs wohl eines der beschämendsten Kapitel deutscher Militärgeschichte:

„Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gekommen waren, setzten sie alles daran, die jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für ihr Land gekämpft hatten und gefallen waren, aus dem Gedenken auszuschließen. Ein Jude, ein Bürger zweiter Klasse, durfte weder Deutscher noch Held sein. Selbst die höchsten militärischen Auszeichnungen, die Juden im Krieg erhielten, hatten auf ihre Deportation und Vernichtung – wenn überhaupt – nur aufschiebende Wirkung.“

Hauptmann Berger ist Gründungsmitglied und Vorsitzender des 2006 gegründeten „Bundes Jüdischer Soldaten“. Diese Vereinigung, die ganz bewusst an den berühmten „Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten“ anknüpfen will, hat sich als oberstes Ziel gesetzt, die Erinnerung an das Schicksal der jüdischen Veteranen in den deutschen Armeen wachzuhalten.

Michael Berger: „Und so wollten wir als die wenigen jüdischen Soldaten in der Bundeswehr einen Beitrag zu dieser Traditionspflege leisten und haben aus diesem Grund den ‚Bund jüdischer Soldaten‘ ins Leben gerufen.“

Dessen Mitgliederzahl sich bisher noch im zweistelligen Bereich bewegt. Was aber die Gründungsmitglieder und ihre Förderer nicht davon abhielt, sehr schnell eine breite Palette von Aktivitäten zu entwickeln. Dazu gehört die jetzt vorgestellte, aus einem Forschungsprojekt entstandene Publikation mit dem Titel „Juden und Militär in Deutschland – Zwischen Integration, Assimilation, Ausgrenzung und Vernichtung“. Sie befasst sich mit geschichts- und religionsphilosophischen Betrachtungen des Judentums, mit jüdischer Identität, mit kulturhistorischen Überlegungen und auch mit Antworten auf sehr konkrete Fragen:

Gideon Römer-Hillebrecht: „Wie verhält sich eigentlich jüdische Religion zur Wehrpflicht? Ist es eigentlich einem Juden gestattet, in einer nichtjüdischen Armee zu dienen? Wir ziehen den Talmud zurate, wir problematisieren aber auch, dass Juden auf Juden schießen können, wenn sie in unterschiedlichen Armeen dienen",“

so Oberstleutnant Dr. Gideon Römer-Hillebrecht, stellvertretender Vorsitzender des „Bundes Jüdischer Soldaten“. Natürlich musste sich das Buch aber auch der Problematik des Antisemitismus in der Truppe und in der Gesellschaft stellen:

„"Wir haben hier deutlich herausgearbeitet, dass Antisemitismus keineswegs nur das Problem von irgendwelchen rechten Schlägern ist, sondern es ist das Problem von Menschen, die mit der pluralistischen Moderne nicht zurechtkommen. Insoweit ähneln sich heutiger Antisemitismus und Islamismus, aber auch bei den sogenannten ‚Neuen Rechten‘, die als Scharnier zwischen Rechtsextremen und Ultrakonservativen Ähnliches glauben: Nämlich, dass die deutsche Volksgemeinschaft überfremdet, gefährdet ist."'‘

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee habe sich, so hat Oberstleutnant Rainer Hoffmann beobachtet, im Lauf der Geschichte immer zwischen „himmelhochjauchzend“ und „zu Tode betrübt“ bewegt.

Tatsächlich ist die Bundeswehr lange Zeit ja auch lediglich bei Waldbränden und Flutkatastrophen in Erscheinung getreten. Doch dieses Bild hat sich nun, unter dem Eindruck der Bilder deutscher Soldaten in Afghanistan, radikal verändert. Allerdings, so Rainer Hoffmann, gebe es gerade bei dem Thema „Bundeswehr“ eine durchaus unterschiedliche Wahrnehmung bei Juden und Nichtjuden:

„In Deutschland sagt man immer: ‚Nicht wieder‘ und meint damit: Wir führen keinen Krieg mehr. Wenn ich als Jude sage: ‚Nicht wieder‘, dann heißt das: nie wieder Opfer. Das heißt also: Wir haben gelernt, dass wir uns wehren müssen, gegebenenfalls auch mit der Waffe in der Hand. Und es wäre mir wirklich lieb, wenn man in Deutschland gelernt hätte, dass man für das, was wertvoll ist, und ich halte die Demokratie für wertvoll, auch eintreten muss – gegebenenfalls auch mit der Waffe in der Hand.“