Zwietracht im Mustertal

Von Michael Fischer · 23.11.2006
Postkartenidylle, dort, zwischen Chiemsee und Tiroler Kaisergebirge. Und "Dorf der Zukunft", also Vorzeigeort. Die Rede ist von Schleching, im schönen Achental gelegen und früher ein beliebter Skiort. Doch der Schnee blieb irgendwann aus und Schleching schaute sich um - nach anderen Sportarten. Und so geht es dem Ort nun viel besser als anderen ehemaligen bayerischen Skiorten, die nicht oder zu wenig in Alternativen investieren.
"Sicher is dös schee, wennd Sonna scheint und es is in der Früh scho blaua Himme. Aber es gibt ah andere Saiten daherom. Schnee, Regna, Koad, dös tuat a die Viecha furchtbar schiach, wenn se des Wedda ga nimma dafangt."

Die Sprache der Alm – eigenwillig wie das Leben dort oben: frei, aber manchmal auch hart.

Der junge Senner blinzelt in die Morgensonne. Fünf Milch- und 20 Jungkühe versorgt er auf der Dalsenalm. Momentan allerdings versucht er, das "glumperte" Butterfass wieder zusammenzusetzen. Das ist gerade auseinander gebrochen ist und auf der Bank sitzt Besuch aus dem Dorf und erholt sich vom Aufstieg.

Irlacher: "Wie viel helfen dir da, weil des wirst ja net ois aloa schaffn?"
Senner: "Ja, des mehrer mach I scho …"

Scho a scheene Aussicht auf Brunnen, Kühe und Senner, aber Claudia Irlacher ist nicht deshalb von Schleching auf die Dalsenalm raufgekommen. Die Plauderei mit dem Senner über Wetter und Gott und die Welt muss warten. Die 45-Jährige will wissen, was aus dem Projekt geworden ist? Dem, das sie als Mitarbeiterin des Ökomodells Achentals im Sommer initiiert hatte. Ganz wie früher haben mehrere Bauern "zamg`holfn", um gemeinsam die Almwiesen von Unkraut und Wildwuchs zu säubern.

Die gemeinsame Säuberung der Almwiesen verbindet die Förderung von Gemeinschaftssinn mit handfestem Nutzen – und genau darum geht es dem Ökomodell Achental.

Claudia Irlacher freut sich. Sie ist blond und das Herz der Geschäftsstelle - organisiert Beratungsprogramme für die Bauern, die Gastwirte und Privatvermieter, bildet Touristenführer aus, knüpft Kontakte zu anderen Organisationen und schafft Fördergelder ran - ob von Stiftungen, von der Landes-, der Bundesregierung oder von der Europäischen Kommission. Es geht um die Dreieinigkeit von Landwirtschaft, Naturschutz und Tourismus.

"Also zum Beispiel Direktvermarktung ist ein wichtiger Baustein, es gibt also einen Bauernmarkt inzwischen, es gibt Hofläden, eine mobile Käserei wird eingesetzt. Es werden viele Landschaftspflegemaßnahmen durchgeführt, also die Landwirte dabei unterstützt, die Almen offen zu halten, die Streuwiesen wieder zu entbuschen und wieder in Pflege zu nehmen, weil ohne diese Flächen gibt es natürlich auch diese Blumenpracht nicht."

Derzeit steckt sie Zuversicht und Kraft in ein von der EU gefördertes Projekt zur alternativen Energieversorgung. Das Achental soll sich bis zum Jahr 2020 mit Wärme und Strom selbst versorgen können. Erst soll eine Biogasanlage auf dem Gebiet der Gemeinde Grassau entstehen, dann ein Biomassehof, wo Hackschnitzel und Holzpellets möglichst aus heimischer Produktion gelagert und verkauft werden sollen. Doch gerade das, was als Vorzeigeprojekt gedacht war, mit Vorbildcharakter weit über die Region hinaus, entzweit das Tal.

Das geografische Herz des Achentals, die Gemeinde Marquartstein, verkündete im Herbst seinen Austritt aus dem Ökomodell. Weil, so kommentiert Bürgermeister Andreas Dögerl den Sinneswandel der Gemeinde bayuwarisch kurz:

"Ma oan Wettbewerb wollen und koa Planwirtschaft."

Claudia Irlacher schaut auf die Bergwiesen, die sich bis zum angrenzenden Wald hinauf erstrecken. Wettbewerb? Planwirtschaft? Um die Einzigartigkeit der Region zu erhalten, müssten alle an einem Strang ziehen, denn das eigentliche Kapital der acht Gemeinden im Achental liege in der Landschaft, in den Naturschutzgebieten und den Privatvermietern, den gemütlichen Gasthöfen und den Bauern, die nicht nur die Landschaft und das Brauchtum erhalten, sondern auch Gäste wie Einheimische zunehmend mit biologisch angebauten Produkten versorgen. Die Ortschaften im Achental feiern noch viele traditionelle Feste, das Dorfleben ist intakt, die Gäste werden integriert.

"Das hat schon Früchte getragen, einfach darin, dass wir den Strukturwandel in der Landwirtschaft bisher recht gut überstanden haben in unserem Gebiet. Wir haben ganz, ganz viele junge Landwirte, die den Hof übernommen haben, und die positiv und optimistisch in die Zukunft schauen. Also das ist so ein Gradmesser, wo ich sag, ja, da hat sich wirklich was getan zum Positiven."

Dennoch rumort in der schönen heilen Welt, im Achental.

"I sags jetzt wies is: Der Geschäftsführer vom Öko-Modell hat in seiner Heimatgemeinde, weil er da im Gemeinderat ist, hat bei der Aufstellung des Bebauungsplans für einen Lidl-Markt gestimmt. Des is derart konträr, dass der Geschäftsführer vom Öko-Modell, das der für Regionalität wirbt, letztendlich dann für einen Diskounter stimmt."

Andreas Hafner schüttelt hinter der Kasse seines Hofladens in Feldwies verständnislos den Kopf. Die Entscheidung für den Lidl-Markt brachte für ihn und seine Frau das Fass zum Überlaufen. Er zog die Konsequenz und trat aus dem Vorstand des Öko-Modells aus, dem er fünf Jahre lang angehört hatte.

"Wir haben schon lange gehadert, weil’s halt a Bürgermeistermodell ist und koa Bürgermodell. Des orientiert sich an möglichen Förderungen, aber nicht an einer Grundvision."

… wie zum Beispiel die Errichtung des Biomassehofes, den der Ladenbesitzer und seine Frau im Grunde genommen befürworten. Aber die Art, wie das Projekt durchgesetzt wird, widerspricht ihrem Verständnis von Bürgerdemokratie.

Auf dem Platz vor dem Rathaus übt die Musikgruppe des Schlechinger Trachtenvereins. Die Vereine sind ziemlich rege in Schleching, dem bayerischen Bergdorf, das es als eines der ersten wagte, sich vom hergebrachten Ski-Tourismus zu verabschieden.

In seiner Freizeit führt Fritz Irlacher Touristen durch ein kleines Waldstück zwischen der Ache und der Hauptstrasse nach Tirol – auf der Suche nach Orchideen und anderen seltenen Blumen, von denen es hier viele gibt. Der kurz vor der Pensionierung stehende Bürgermeister Schlechings ist Begründer und erster Vorsitzender des Öko-Modells. Irlacher ist stolz auf seine malerische Heimat, die früher auch bei Skifahrern beliebt war. Doch dann blieb der Schnee aus. Seitdem setzt Schleching auf andere Wintersportarten – so auf Eisstockschiessen, Schneeschuhlaufen und Pferdeschlittenfahrten. Damit steht der kleine Ort am Fuße des Kaisergebirges viel besser da als viele andere ehemaligen Skiorte Bayerns, die zu wenig in Alternativen investieren. Der Hauptgrund für den Erfolg ist, so Fritz Irlacher:

"…dass die Leute mitmachen, dass die eben praktisch über ihren Schatten springen und net immer sagen: ‚Gemeinde, mach du das’, sondern: ’Des machen wir selber’. Wir sind die Gemeinde, net die Gemeinde da im Amt, des Amt ist net wirklich die Gemeinde und des haben die schon erfasst."

Das Modell war so erfolgreich, dass es die anderen sieben Gemeinden des Achentals übernahmen. 1999 wurde das Ökomodell Achental aus der Taufe gehoben. Doch nun herrscht Zwietracht im Tal des Fortschritts. Seit die Gemeinde Marquartstein ihren Austritt erklärt hat, schlagen die Wellen im Tal hoch, schrieb die Lokalzeitung "Das Traunsteiner Tageblatt", "die Kleinstadt Marquartstein fürchtete eine Beeinträchtigung ihrer Selbstverwaltungsrechte."

Bürgermeister Fritz Irlacher diskutiert im Schlechinger Rathaus mit den Mitgliedern einer Stiftung für die Dorferneuerung über das nächste Projekt. Aber eigentlich plagen ihn gerade ganz andere Sorgen. Im Vorzimmer warten bereits die Bürgermeister der anderen sieben Gemeinden. Thema der heutigen Vorstandssitzung des Ökomodells: der Austritt der Gemeinde Marquartstein. Deren Bürgermeister, Andreas Dögerl, CSU-Mitglied wie sein Kontrahent Fritz Irlacher, ist gekommen, um die Entscheidung zu erklären.

"Bei dieser GmbH-Gründung, da ist im Hinterkopf scho die Gründung der KG gewesen, wollte man nicht, dass die Gemeinden, die diesen Beitrag leisten und den Geschäftsführer bezahlen, dass die auch Gesellschafter dieser GmbH werden. Und dann haben wir gesagt: Es kann nicht sein, dass wir mittel- oder unmittelbar bei einer GmbH beteiligt sind, bezahlen, aber kein Stimmrecht haben. Des geht zu weit."

Andreas Dögerl, jüngster Bürgermeister im Achental, schaut herausfordernd in die Runde. Die Entwicklung von kommunalen Unternehmen in Privatrechtsform habe zwar auch aus Sicht der Gemeinde Marquartstein ihre Berechtigung, sagt er, nur seien die Gemeinderäte von der Vorgehensweise bei der GmbH-Gründung befremdet.

Die anderen Bürgermeister grinsen. "Befremdet" – so hochgestochen können nur die ‚Preissen’ aus Marquartstein daherreden. De hom si scho imma als was b’sonders g’fuit.

Dögerl wird grantig: Nach dem jetzigen Modell hätten die Gemeinden keinen angemessenen Einfluss. Außerdem blieben Transparenz und Wirtschaftlichkeit auf der Strecke. Und er unterstellt den Projektbetreibern auch Mauscheleien. Aber seitdem das Achental-Modell von höchster Stelle protegiert werde, sei es ja gegen Kritik immun, grinst Dögerl vielsagend: Schließlich hat Landtagspräsident Aloys Böck höchstpersönlich die Schirmherrschaft übernommen.

"I hoit a net unbedingt ois fuar guat, wos von der Staatsregierung kimmt. Und i hab die Auffassung, kommunal hat das Politische also a große Rolle. Der einzige Vorteil is, dass sie vielleicht die grobe Richtung erkennen kann. Und des liegt ganz klar bei uns, dass ma oan Wettbewerb wollen, und koa Planwirtschaft."

Irlacher schüttelt ungeduldig den Kopf. In Zeiten der Globalisierung und der europäischen Integration stünden Regionen, nicht aber Gemeinden im Wettbewerb. Erfolg habe, wer Geschlossenheit und Besonderheit demonstriere, sagt er. Und das Ökomodell Achental habe dabei nun einmal Vorbildcharakter, reibt Irlacher seinem Widersacher unter die Nase. Trotzig fügt er hinzu: Die verbleibenden Gemeinden des Vereins würden auch weiterhin ehrlich und vertrauensvoll zusammenarbeiten.

Auf dem Michaeli-Markt in Grassau geht es zu wie im Schlechinger Rathaus. Ein Pferdebesitzer streitet sich mit mehreren Kuhhändlern um einen Standplatz für den schwarzen Hengst, den er verkaufen möchte.

Früher war der Handel mit Tieren das Hauptgeschäft auf dem jährlich stattfindenden Markt, heute ist es nur noch eine Nebenbeschäftigung. Stattdessen ziehen Stände mit Haushaltswaren, Kleidern, Werkzeugen und Ramsch aller Art die Besucher an. Viele kommen - wie Claudia Irlacher - einfach, um Freunde und Bekannte zu treffen.

Stefan Kattari junior und senior, zwei ortsbekannte Orchideenspezialisten, nutzen den kurzen Ratsch mit der Mitarbeiterin des Öko-Modells, wollen wissen, was denn Ihrer Meinung nach der Grund dafür sei, dass die Gemeinde Marquartstein das Öko-Modell verlässt?

"Das ist wirklich schwierig zu sagen, muss ich sagen. Es ist schwierig zu sagen, was der eigentliche Grund ist, zu sagen, wir wollen da nicht mehr dabei sein. Die Gemeinde Marquartstein ist zwar zentral in der Mitte, aber sie haben wenig Land, dieses Thema ist vielleicht auch immer für sie nicht so, ja - Erhalt der Landschaft, Förderung von naturverträglichen Tourismus und so weiter - des ist vielleicht eine Gemeinde, wo das Thema vielleicht nicht so stark von Interesse ist."

In der Tat: Marquartstein nimmt im Achental schon seit langem eine Sonderrolle ein. Früher war es der Gerichtsort, in dem die bei den Einheimischen unbeliebten Beamten und Richter wohnten. Und mit der Eisenbahn kam dann um die vorletzte Jahrhundertwende die von den Bauern misstrauisch beäugte Boheme ins Tal, ‚Preissen’, die sich in schönen Jugendstil-Villen einrichteten. Heute ist der Ort ein Magnet für Familien und Senioren, die sich von Gülle versprühenden Bauern und herumziehenden Touristen in ihrem Paradies eher gestört fühlen. Warum sich also für ein Öko-Modell einsetzen, das nicht ihren Interessen entspricht?

Endlich: Das altersschwache Butterfass ist wieder zusammengesetzt. Gemächlich dreht der Senner an der Kurbel und aus der Milch wird langsam Butter.

Bald beginnt sein zweites Leben: im Winter ist er Altenpfleger. Und so schwer es ihm fällt, die idyllische Alm zu verlassen – das Leben im Tal hat auch seine Vorteile. Zum Beispiel das für die kleinen Achental-Gemeinden erstaunlich vielseitige kulturelle Angebot: Chöre, Literaturzirkel, Musikfestivals und Theatergruppen. Ja und 17 Astronauten waren auch schon in Schleching, um davon zu erzählen, wie klein und zerbrechlich die Erde vom Weltraum aus erscheint. Tradition und Moderne haben es nicht immer leicht miteinander. Auch nicht im Achental.