Zweiter Weltkrieg

Rote Armee befreit Leningrad

Von Volker Ullrich · 27.01.2014
Am 27. Januar 1944 befreite die Rote Armee Leningrad von der Belagerung durch deutsche Truppen. Fast 900 Tage hatte die Blockade gedauert, Hunderttausende waren ihr zum Opfer gefallen. Auch im heutigen St. Petersburg ist die Erinnerung an diese Katastrophe noch allgegenwärtig.
Am 27. Januar 1944 meldet das Oberkommando der Wehrmacht:
"Nordwestlich des Ilmensees und im Raum südlich Leningrad stehen unsere Divisionen weiter im schweren Abwehrkampf gegen überlegene feindliche Kräfte."
Was der Wehrmachtbericht verschwieg: An eben jenem 27. Januar 1944 hatte die Rote Armee nach langen verlustreichen Kämpfen den deutschen Belagerungsring um Leningrad vollständig gesprengt. Am Abend des denkwürdigen Tages feierten die Bewohner der Newa-Metropole ihre Befreiung mit einem Feuerwerk und einem Siegessalut aus über 300 Geschützen. Zweieinhalb Jahre zuvor, im September 1941, hatte die Heeresgruppe Nord unter Wilhelm Ritter von Leeb Leningrad eingeschlossen. Nach dem Willen Hitlers sollte die Drei-Millionen-Stadt nicht eingenommen, sondern ausgehungert und danach dem Erdboden gleichgemacht werden. Propagandaminister Joseph Goebbels hielt nach einem Gespräch mit dem Diktator in seinem Tagebuch fest:
"Von dieser Stadt ist der Bolschewismus ausgegangen, und in dieser Stadt wird der Bolschewismus endgültig zerschmettert werden ... Es entwickelt sich hier das schaurigste Stadtdrama, das die Geschichte jemals gesehen hat."
Der kühl kalkulierte Hungertod von Millionen Menschen war Teil des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Die Wehrmachtführung war sich mit Hitler darin einig: Eine Kapitulation Leningrads sollte abgelehnt und jeder Ausbruchversuch der Zivilbevölkerung gewaltsam verhindert werden.
"Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkampf unsererseits nicht", hieß es zum Beispiel in einem Schreiben der Seekriegsleitung an die Heeresgruppe Nord von Ende September 1941. Seit die deutschen Streitkräfte Leningrad von allen Verbindungen ins Landesinnere abgeschnitten hatten, konnte Nachschub nur noch über den Wasserweg, den Ladogasee, organisiert werden. Als der See im November 1941 zufror, besorgten Lastwagen den Transport über eine Eispiste, die "Straße des Lebens", wie sie von den Eingeschlossenen genannt wurde. Doch die herangeschafften Lebensmittel reichten bei weitem nicht aus, um die Bevölkerung zu ernähren. Hinzu kam der tägliche Artilleriebeschuss durch die Deutschen. Strom und Gas fielen aus, Wasser gab es nur noch stundenweise. Am schlimmsten wütete die Hungersnot im besonders kalten Winter 1941/42. Auf den Straßen brachen die Menschen plötzlich zusammen und starben, kaum beachtet von den Passanten, die auf Jagd nach etwas Essbarem waren. In den ungeheizten Wohnungen lagen die Leichen der Verstorbenen oft wochenlang, ehe sie, in Laken oder Decken gehüllt, auf Kinderschlitten zu den Friedhöfen gezogen und in Massengräbern verscharrt wurden.
Eines der schlimmsten deutschen Kriegsverbrechen
"Uns bleibt nichts mehr übrig als uns hinzulegen und zu sterben", schrieb die sechzehnjährige Schülerin Lena Muchina Anfang Januar 1942 in ihr Tagebuch.
Lena wurde im Juni 1942 über den Ladogasee evakuiert – eine von mehreren Hunderttausenden, die auf diesem Weg gerettet werden konnten. Doch die Bewohner Leningrads litten nicht nur unter dem Terror der Blockade, sondern auch unter den Repressalien des eigenen Regimes, das mit drakonischen Maßnahmen versuchte, Ordnung und Disziplin aufrechtzuerhalten. Nach wie vor machten Stalins Häscher Jagd auf so genannte "Volksfeinde".
"Wir wurden zweifach belagert, von innen und von außen",
erinnerte sich der Literaturwissenschaftler Dmitri Lichatschow. Andererseits: Selbst in den schlimmsten Hungermonaten kam das kulturelle Leben nicht zum Erliegen, blieben Bibliotheken und Theater geöffnet, lauschten die Einwohner den aufrüttelnden Versen der Dichterin Olga Bergholz und den Klängen des Rundfunksymphonieorchesters. In der belagerten Stadt begann Dmitri Schostakowitsch seine Siebente, die "Leningrader Symphonie" zu komponieren, die hier im August 1942 aufgeführt wurde. Im Januar 1943 gelang es der Roten Armee, eine erste Schneise in den Belagerungsring zu schlagen. Doch es dauerte noch ein weiteres Jahr, bis Leningrad endgültig vom Würgegriff der Blockade befreit war. 872 Tage hatte die Belagerung gedauert; die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung wird auf bis zu eine Million Menschen geschätzt. Keine andere Stadt hatte im Zweiten Weltkrieg eine ähnliche Katastrophe erlebt. Es war eines der schlimmsten deutschen Kriegsverbrechen, das überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, man sich in der Bundesrepublik jedoch bis in die 90er Jahre hinein geweigert hat.