Zweimal grüner Heinrich

Vorgestellt von Edelgard Abenstein · 20.05.2005
Vor 150 Jahren schrieb Gottfried Keller den traurigen Roman "Der grüne Heinrich": Innerhalb von 20 Jahren verkauften sich nur 900 Exemplare. 40 Jahre später beschloss er, die Geschichte des Jungen, der Maler werden wollte, umzuschreiben. Den grünen Heinrich gibt es somit in zwei Fassungen, deren Nebeneinanderstellung dem Leser ungeahnte Einblicke in die Tiefen des schriftstellerischen Schaffens ermöglichen.
Eigentlich hat er vor, Maler zu werden. Da er dabei nicht so recht vorankommt, versucht er sein Glück auf einem anderen Terrain. So kommt es, dass er mit Anfang 20 beschließt, "einen kleinen traurigen Roman" zu schreiben.

Er handelt von einem jungen Mann, der in eine große Stadt aufbricht, um Maler zu werden, dabei allerhand erlebt, bloß nicht den gewünschten Erfolg, als gescheiterte Existenz in sein Dorf zurückkehrt, um dort am Ende den Tod zu finden. Leider wird dieser Roman auch kein Erfolg, obwohl er sich in manchen Zügen an einem Vorgänger orientiert, der über Jahrzehnte hinweg ein Bestseller war, "Die Leiden des jungen Werther".

Gottfried Kellers Romanerstling aus dem Jahre 1854 hatte eine Auflage von 1000 Exemplaren, von denen innerhalb von 20 Jahren genau 900 Exemplare verkauft wurden. So macht sich sein Autor mit 60 - er ist mit Erzählungen über die Welt der kleinen Leute endlich berühmt geworden – noch einmal an die Arbeit und verändert das ungeliebte Werk, vor allem den "zypressendunklen Schluss".

Er lässt seinen Helden zwar weiterhin scheitern, aber nicht sterben, dafür darf er in einer "bescheidenen Daseinsform" ruhig und still die Dinge des Lebens abwarten. Dafür aber werden weit ausholende reflektierende Passagen gestrafft, erotische Passagen gekürzt, anstößig Scheinendes wie etwa die Naturszene mit der badenden Judith getilgt. In der zweiten Fassung fehlt zum Beispiel die schöne Stelle, in der Mond, Fluss, Haut, leuchtende Augen die Verführung bedeuten, aber leider auch den Verzicht.

Gottfried Kellers "Grüner Heinrich" bietet die seltene Gelegenheit, einen literarischen Stoff in zwei Fassungen kennen zu lernen, ein Vergnügen, das sonst nur die mühsame Lektüre von historisch-kritischen Ausgaben beschert. Tatsächlich, zwei verschiedene Erzählungen unter demselben Titel, ein "work in progress" gewissermaßen, geben den Blick frei in die Werkstatt des Schriftstellers, machen mit seinen Motiven, seiner Arbeitsweise und seinen Absichten bekannt.

Der vorzügliche Kommentar, detaillierte Anmerkungen, glänzende Exkurse in die Welt der Anspielungen und Querverweise, die einem heutigen Leser nicht ohne weiteres geläufig sind, bereichern die Lektüre. Auch wer die spätere Fassung nicht kennt, die die Zeitgenossen für die "reifere" gehalten haben, darf dem Zauber des Erstlings mit seiner melancholischen "Unversöhnlichkeit" in Ehren erliegen.

Der Verlag wirbt damit, dass der Roman seit mehr als 70 Jahren nicht mehr in der ersten Fassung auf dem Markt sei. Dabei bietet ihn Reclam in einer Ausgabe von 2003 an, allerdings nicht mit dem Kommentarwerk, den abzudrucken sich der Insel-Verlag leistet, als Verwertungsstelle des im gleichen Hause angesiedelten Deutschen Klassiker Verlag, wo er allerdings 92 Euro kostet.

Die im Insel-Taschenbuch greifbare Ausgabe verzichtet ebenfalls auf den ausführlichen Kommentar, zeigt dafür aber Zeichnungen Gottfried Kellers, der wie sein Grüner Heinrich anfänglich die Malerlaufbahn anstrebte, im Unterschied zu diesem aber glücklicherweise beschloss, Schriftsteller zu werden.

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. 1. Fassung. Insel-Verlag 2005, 1400 Seiten, 34 Euro