Zweihundert Jahre zerfaserte Insel-Geschichte

Rezensiert von Tobias Rapp |
Autor Olaf Schmidt ist wie sein Protagonist, der junge Kunsthistoriker Anselm, auf der Nordsee-Insel Föhr aufgewachsen. Dieser kommt auf die Insel zurück und sucht für seine Doktorarbeit nach einem Bild des Malers Oluf Bahren. Schmidt berichtet in seinen Roman "Friesenblut" von den Irrungen und Wirrungen deutscher Geschichte und erzählt von der Schönheit und dem Schmerz des Scheiterns.
Es fließt eine Menge Blut in diesem Roman, und was dieses But speziell zu friesischem Blut macht, ist eines der Themen, von denen Olaf Schmidt in seinem Debüt "Friesenblut" erzählt. Das Buch spielt auf der Nordsee-Insel Föhr, eines dieser Grenzgebiete, um die sich Deutschland mit seinen Nachbarn gerne und ausführlich zankte, bevor mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg dieses Bedürfnis endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte landete.

Friesisches Blut also. Dem jungen Kunsthistoriker Anselm, der auf Föhr nach einem Bild des Malers Oluf Bahren sucht, das er für seine Doktorarbeit braucht, fließt es zwar durch die Adern, ist er doch auf Föhr aufgewachsen. Doch seine alten Schulkameraden beobachten ihn bereits mit Misstrauen, da er die Insel für das Studium verlassen hat.

Für den Heimatforscher Vanini lässt sich über das friesische Blut gleich die ganze Menschheitsgeschichte erklären, hält er Föhr doch für den letzten Rest des versunkenen Atlantis und die Föhrer mithin für die letzten Überlebenden einer besonderen Menschenrasse. Was sich andere wiederum nur ungern von Vanini sagen lassen, war doch ausgerechnet sein Großvater ein italienischer Matrose.

Und auch das geheimnisumwehte Bild, nach dem Anselm sucht, ist blutbespritzt: Faschistische Inselbewohner haben in den späten Dreißigern einen jüdischen Kunstsammler totgeschlagen, der sich für Bahren interessierte und den sie verdächtigten, ein junges Mädchen verführen zu wollen.

Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen, dem sich Olaf Schmidt mit seinem Roman stellt, der selbst auf Föhr aufgewachsen ist, nun aber in Leipzig lebt, wo er als Redakteur des Stadtmagazins "Kreuzer" arbeitet.

Zweihundert Jahre Dorfgeschichte auf zweihundertachtzig Seiten literarisch zu erzählen - und dabei keinen Aspekt der zerfaserten Insel-Geschichte auszulassen: die Inselliebe des romantischen Malers und Schulmeisters Bahren im 19. Jahrhundert, der Streit um die nationale Identität der Föhrer und die damit einhergehende Machtpolitik - nach dem ersten Weltkrieg stimmen die Föhrer darüber ab, ob sie Dänemark oder dem deutschen Reich angegliedert werden wollen; die Protagonisten der völkischen Kampagne sind später begeisterte Parteigänger der Nazis.

Und zu guter letzt die Situation einer Insel, die ihre Einwohner zunehmend ans Festland verliert. Die leeren Häuser werden Zweitwohnungen wohlhabender Städter.

Es ist ein Roman über die Irrungen und Wirrungen deutscher Geschichte, genauso wie ein Roman über die Schönheit und den Schmerz des Scheiterns. Was geht nicht alles schief auf dieser Insel: da gibt es den Schulmeister Oluf Bahren, der Anfang des 19. Jahrhunderts aus seiner Schule gejagt wird, weil er sich auf die Liebesbeziehung zu einer ehemaligen Schülerin eingelassen hat; er vergräbt sich fortan in einer kleinen Hütte in der Nähe des Strandes, sammelt Versteinerungen im Watt und malt.

Sein Schüler Matthiessen scheitert an der Aufgabe, das unvollendete Meisterwerk fertig zu stellen. Was dazu führt, dass Anselm am Ende seine Doktorarbeit nicht schreiben kann.

Aber, so stellt man fest, wenn man das Buch dann zuklappt: Im Medium der Literatur ergeben all diese Fehlschläge ein stimmiges Bild. Elegant fügt Schmidt seine Ebenen zusammen. Ganz so, als könne nur die Literatur kitten, was Politik, Wahn, Wissenschaft und Liebe über 200 Jahre auseinanderfallen ließen.

Olaf Schmidt: Friesenblut
Eichborn Berlin 2006
280 Seiten, 19,90 Euro