Zweifeln tut gut
Zweifeln kann in den Abgrund führen, wenn alles und jedes bezweifelt und skeptisch beäugt wird. Zu festgezurrte Überzeugungen sind aber auch nicht gut: Sie können gefährlich sein und zu Fanatismen führen. Der Psychoanalytiker und Neurologe Mario Gmür hat ein Buch geschrieben, in dem er sich für eine gehörige Portion Zweifel stark macht und in dem er Extremisten und Fanatiker als das eigentliche Problem unserer Zeit ausmacht.
Das Staunen ist nach Platon und Aristoteles der Anfang der Philosophie. Warum? Der Grund ist, dass im Staunen die Dinge und Ereignisse aus ihrer Selbstverständlichkeit gleichsam herausgehoben werden, dass sie mithin befrag- und hinterfragbar werden. Das Staunen bringt die Theoriebildung auf den Weg. Der Zweifel kann eine ähnliche Funktion erfüllen, doch er war, im Gegensatz zum Staunen, immer auch die Gefahr des Denkens. Der Zweifel kann - nach Meinung der Philosophen - in den Abgrund führen, in den Skeptizismus: wenn alles und jedes bezweifelt wird.
Für den Psychiater, Neurologen und Psycholanalytiker Mario Gmür, der für das Buch "Der öffentliche Mensch" über die Auswüchse des Boulevardjournalismus bereits Lob erhielt, sind in seinem neuen Buch "Die Unfähigkeit zu zweifeln" Staunen und Zweifel das wertvolle Gegengift zur Überzeugung. Denn Überzeugungen können sich nach Gmür unter gewissen individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen zu Fanatismen und Ideologien verfestigen. Sogar bei klassischen Krankheitsbildern der Psychopathologie wie Schizophrenie oder manisch-depressiver Erkrankung diagnostiziert Gmür gefährliche Überzeugungsverfestigung. Von den positiven Seiten des Überzeigt-Seins, die er durchaus nicht leugnet, geht Gmür zur düsteren Zeitdiagnose über: "Man könnte sagen, dass das Phänomen Überzeugung ein Janusgesicht hat: Die Überzeugung ist herausragende Bauherrin großartiger kultureller Leistungen einerseits und schrecklichste Massenmörderin andererseits."
Mario Gmürs Anliegen ist es, dem Begriff Überzeugung dereinst im "Wörterbuch der Psychologie den gleichen Stellenwert wie etwa den Einträgen "Libido" oder "Komplex'" zukommen zu lassen. Gmür fasst zahlreiche Fallanalysen zusammen und ordnet sie unter neurologischen, psychologischen, gruppen- und massenpsychologischen Gesichtspunkten. Er entwickelt so eine knappe wie überzeugende Typologie der Überzeugtheit, die gebräuchliche Einteilungen wie "Mitläufer" einer Sekte und Ideologie oder "Fanatiker" differenziert und psychofunktional aufgliedert.
Mit Blick auf die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts und das Phänomen des Selbstmordterrorismus bemerkt der Autor: "Die zerstörerische Seite von Überzeugung weist in die tiefsten moralischen Abgründe der Menschheitsgeschichte. Sie zeigt sich in den verheerenden Verwüstungen ungeahnten Ausmaßes, die der menschliche Genius angerichtet hat. Diese brauchen den Vergleich mit Naturkatastrophen nicht zu scheuen."
Gmür behandelt sein Sujet im Rahmen einer kulturpsychologischen Fragestellung. Die neuesten Theorien der Hirnforschung werden ebenso kenntnisreich auf das Problem bezogen wie die klassische Psychoanalyse. Dabei riskiert Gmür viel: Elegant rekonstruiert er aus Thesen der etablierten Forschung die Überzeugungspathologien ihrer Urheber, so auch aus der Hirnforschung.
Man merkt schnell, dass der Autor nichts weniger im Sinn hat, als die Wurzel allen Übels in den modernen Gesellschaften auszumachen - und zu therapieren. Er wendet sich an den Leser mit dem ausdrücklichen Ansinnen, ihn zu verändern: "Das Nachdenken über Überzeugungen endet also in einer Ethik der Lebenskunst des Zweifelns." In einem rasanten, auch in den Fachabhandlungen sehr lesbaren Essay-Stil verweist Gmür auf die zweifelfreundliche Struktur des modernen Liberalismus und führt damit Nietzsches Projekt der Heilung von Vorurteilskrankheiten weiter: "Zweifeln ist aber nicht nur eine Methode der Kritik, sondern eine elementare Voraussetzung von Wahrnehmung, Wissenserwerb und Überzeugungsbildung überhaupt."
Der moderat zweifelnde Mensch - nicht der zerknirschte Existenzialist - ist "zu einem Staunen fähig, das die Dinge in ihrem Selbstwert und Sosein achtet und nicht zum Objekt besitzergreifender Schaulust degradiert". Mario Gmürs Studie "Die Unfähigkeit zu zweifeln" leistet neben seiner fundamentalphilosophischen Komponente wiederum Grundsätzliches: die undogmatisch psychoanalytische Ableitung eines Begriffs, der mit Sicherheit in den Debatten der Zukunft eine Rolle spielen wird: die Überzeugungskrankheit.
Mario Gmür:
Die Unfähigkeit zu zweifeln.
Welche Überzeugungen wir haben und wann sie pathologisch werden.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
327 Seiten, Euro 22,50
Für den Psychiater, Neurologen und Psycholanalytiker Mario Gmür, der für das Buch "Der öffentliche Mensch" über die Auswüchse des Boulevardjournalismus bereits Lob erhielt, sind in seinem neuen Buch "Die Unfähigkeit zu zweifeln" Staunen und Zweifel das wertvolle Gegengift zur Überzeugung. Denn Überzeugungen können sich nach Gmür unter gewissen individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen zu Fanatismen und Ideologien verfestigen. Sogar bei klassischen Krankheitsbildern der Psychopathologie wie Schizophrenie oder manisch-depressiver Erkrankung diagnostiziert Gmür gefährliche Überzeugungsverfestigung. Von den positiven Seiten des Überzeigt-Seins, die er durchaus nicht leugnet, geht Gmür zur düsteren Zeitdiagnose über: "Man könnte sagen, dass das Phänomen Überzeugung ein Janusgesicht hat: Die Überzeugung ist herausragende Bauherrin großartiger kultureller Leistungen einerseits und schrecklichste Massenmörderin andererseits."
Mario Gmürs Anliegen ist es, dem Begriff Überzeugung dereinst im "Wörterbuch der Psychologie den gleichen Stellenwert wie etwa den Einträgen "Libido" oder "Komplex'" zukommen zu lassen. Gmür fasst zahlreiche Fallanalysen zusammen und ordnet sie unter neurologischen, psychologischen, gruppen- und massenpsychologischen Gesichtspunkten. Er entwickelt so eine knappe wie überzeugende Typologie der Überzeugtheit, die gebräuchliche Einteilungen wie "Mitläufer" einer Sekte und Ideologie oder "Fanatiker" differenziert und psychofunktional aufgliedert.
Mit Blick auf die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts und das Phänomen des Selbstmordterrorismus bemerkt der Autor: "Die zerstörerische Seite von Überzeugung weist in die tiefsten moralischen Abgründe der Menschheitsgeschichte. Sie zeigt sich in den verheerenden Verwüstungen ungeahnten Ausmaßes, die der menschliche Genius angerichtet hat. Diese brauchen den Vergleich mit Naturkatastrophen nicht zu scheuen."
Gmür behandelt sein Sujet im Rahmen einer kulturpsychologischen Fragestellung. Die neuesten Theorien der Hirnforschung werden ebenso kenntnisreich auf das Problem bezogen wie die klassische Psychoanalyse. Dabei riskiert Gmür viel: Elegant rekonstruiert er aus Thesen der etablierten Forschung die Überzeugungspathologien ihrer Urheber, so auch aus der Hirnforschung.
Man merkt schnell, dass der Autor nichts weniger im Sinn hat, als die Wurzel allen Übels in den modernen Gesellschaften auszumachen - und zu therapieren. Er wendet sich an den Leser mit dem ausdrücklichen Ansinnen, ihn zu verändern: "Das Nachdenken über Überzeugungen endet also in einer Ethik der Lebenskunst des Zweifelns." In einem rasanten, auch in den Fachabhandlungen sehr lesbaren Essay-Stil verweist Gmür auf die zweifelfreundliche Struktur des modernen Liberalismus und führt damit Nietzsches Projekt der Heilung von Vorurteilskrankheiten weiter: "Zweifeln ist aber nicht nur eine Methode der Kritik, sondern eine elementare Voraussetzung von Wahrnehmung, Wissenserwerb und Überzeugungsbildung überhaupt."
Der moderat zweifelnde Mensch - nicht der zerknirschte Existenzialist - ist "zu einem Staunen fähig, das die Dinge in ihrem Selbstwert und Sosein achtet und nicht zum Objekt besitzergreifender Schaulust degradiert". Mario Gmürs Studie "Die Unfähigkeit zu zweifeln" leistet neben seiner fundamentalphilosophischen Komponente wiederum Grundsätzliches: die undogmatisch psychoanalytische Ableitung eines Begriffs, der mit Sicherheit in den Debatten der Zukunft eine Rolle spielen wird: die Überzeugungskrankheit.
Mario Gmür:
Die Unfähigkeit zu zweifeln.
Welche Überzeugungen wir haben und wann sie pathologisch werden.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
327 Seiten, Euro 22,50