Zweifelhafte Akteure eines Booms

11.04.2007
Luo Lingyuan ist eine in Deutschland lebende chinesische Schriftstellerin. In ihrem neuen Roman schickt sie eine Gruppe einflussreicher Landsleute auf einen Kurztrip durch Europa. Aus der Sicht einer chinesischen Reisebegleiterin beschreibt sie das System aus Hierarchien, Hackordnungen und Abhängigkeiten.
Mit ihrem Erzählungsband "Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem 5. Stock" liefert Luo Lingyuan sezierende Momentaufnahmen aus einem brutalen und reglementierten chinesischen Alltag. Polizei- und Parteiautoritäten mit unkontrollierbarer Machtfülle ausgerüstet, drangsalieren ohnmächtige Menschen. Für diese eindrücklichen, überaus lakonischen Geschichten erhielt sie vor kurzem den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Denn Luo Lingyuan lebt nicht nur seit 1990 in Deutschland, sie schreibt mittlerweile auch in deutscher Sprache. Nun hat sie mit "Die chinesische Delegation" ihren ersten Roman vorgelegt.

Während China in den Augen vieler westlicher Politiker und Geschäftsleute als zukünftiges Investitionsparadies mit unendlichen Gewinnchancen gilt, als das Land der verheißungsvollen Möglichkeiten, zeigt Luo Lingyuan mit ihrer Delegation die chinesischen Akteure dieses Booms: Politiker, Bürokraten, Geschäftsleute und Manager. Sie schickt sie auf einen voll gestopften Kurztrip zu Sehenswürdigkeiten quer durch Europa und zu einer Fachtagung in Berlin, wo es dann tatsächlich um Bauvorhaben und Planungsverfahren, Regelwerke, Baustellenorganisation sowie Denkmalschutz und Stadtplanung geht.

Schließlich wollen die Verantwortlichen von Ningbo auch einen deutschen Mitarbeiter requirieren, um die Projekte ihrer Stadt aufzuwerten, einen Europa-Import, der allerdings nicht zu teuer und nicht zu eigensinnig sein sollte. Aberwitzig, wie da erste Kontakte schief laufen! Auch in Deutschland weiß kaum jemand, worauf es ankommt bei Geschäften mit Chinesen. Feilschen und Preise drücken scheint ihre Lieblingsbeschäftigung.

Aus der Sicht einer in Deutschland lebenden chinesischen Reisebegleiterin beschreibt die Autorin das alles beherrschende System aus Hierarchien, Hackordnungen und Abhängigkeiten, denn Gängelung, Belohnung und Abstrafung fördern devote Gesten, kleine Racheaktionen, große Verwirrspiele unter den Reisenden. Im Zentrum steht der Parteisekretär Wang Jian, dessen Kontrollwut und Machtbewusstsein niemand entkommt. Nach Gutsherrenart verteilt er Aufträge für den Bau eines neuen Stadtviertels, gibt die moralischen Leitlinien vor, etwa im Umgang mit dem verruchten Rotlichtviertel in Amsterdam. Selbstverständlich besucht er es heimlich und wird dabei von der Reiseleiterin Song Sanya ertappt. Weil sie sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze der Gruppe hält und laut ausspricht, was sie gesehen hat, greift er sie "das kleine Mädchen mit Milchgestank" sogar tätlich an.

Luo Lingyauan schöpft ohne Angst vor verallgemeinernden Zuschreibungen aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz als Reiseleiterin. "Hübsch ausländisch" geworden zu sein, ist eben ein ambivalentes Lob. Erwartet wird von jungen Menschen, vor allem von Frauen, absolute Anpassung – im Konfliktfall mit Wang heißt das: Entschuldigungen wider besseres Wissen, wovor sich die prinzipientreue Sanya ekelt. Gleichzeitig verkörpert die Reiseleiterin auch eine Welt, in der angeblich andere Maßstäbe gelten, so dass sie zur Zielscheibe männlicher Übergriffsversuche wird. Sie muss ständig auf der Hut sein und die richtigen Worte wählen. Insgesamt hält sich innerhalb der Gruppe die Neugier gegenüber der fremden Kultur in Grenzen. Auch das vielleicht nur eine Art Tarnung, denn einem immerhin wird in Paris die Flucht gelingen.

Europa erscheint den meisten Mitgliedern jedoch gnadenlos rückständig und langsam – zumal wenn es um Zahlen geht. Stolz konstatieren sie, dass bei ihnen 10 Monate für die Fertigstellung eines Gebäudes genügen, während in Deutschland fünf Jahre dafür veranschlagt werden. Die geltenden Vorschriften und Gesetze – Arbeitszeitregelungen und Sicherheitsvorkehrungen – betrachten die Autoritäten als ungeheuerliche Zumutung. Trotz der hohen Anzahl von Toten auf den Baustellen ihrer Stadt, worüber nicht gesprochen werden darf. Verunglimpfung gehört sich nicht. Mit diesem Argument lässt sich jede Debatte über Probleme abwürgen.

Luo Lingyuan erzählt knapp, mit viel Gespür für Situationskomik, für absurde Verwicklungen und Widersprüche. So entsteht ein Mentalitätspanorama, aus dem zwei ausführliche Lebensläufe herausragen: der des Parteisekretärs und der einer "Self made Frau" und Managerin, die sich von ganz unten hochgearbeitet hat. Beides typische Protagonisten des heutigen China, das bei der Reiseleiterin keine Rückkehrträume auslöst.

Rezensiert von Barbara Wahlster

Luo Lingyuan: Die chinesische Delegation, Roman,
DTV Premium, 257 Seiten, 14,50 Euro