"Zweifel bedeutet eine gewisse Humanisierung"

Peter L. Berger im Gespräch mit Kirsten Dietrich |
Man kann durchaus heutzutage Überzeugungen haben, findet der Religionssoziologe Peter L. Berger. Damit man sie aber nicht fanatisch vertritt oder auf dem Altar der Beliebigkeit opfert, wäre immer ein Rest Zweifel angebracht. "Wenn man nicht ganz sicher ist, ist unwahrscheinlicher, dass man dem anderen den Schädel einschlägt. Und das halte ich für günstig."
Kirsten Dietrich: In der modernen Gesellschaft wird es mit der Religion züg7ig und unweigerlich zu Ende gehen - diese Forschungsthese kam spätestens am 11. September 2001 an ihr Ende, mit dem der islamistische Fundamentalismus in den Blick des Westens rückte. Der Religionssoziologe Peter L. Berger hat dieser These als einer von Wenigen schon viel früher widersprochen. Er beschäftigt sich sein ganzes Forscherleben schon mit der Frage, wie moderne Religion aussieht und vor allem, wie religiöse Toleranz möglich ist. Berger ist einer der bekanntesten Religionssoziologen der Gegenwart, er wurde 1929 in Wien geboren und emigrierte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA.

Professor Berger, Sie wenden sich in Ihrem neuen Buch gegen zwei Formen heutiger Religion: den Relativismus, dem gar nichts mehr heilig ist, und den Fundamentalismus, der alles heilig machen will. Beide klingen wie unvereinbare Gegensätze. Sie sagen, das sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille.

Peter L. Berger: Ja, und ich würde sagen, nicht nur Religion - es gibt Relativismus und Fundamentalismus auch bei rein säkularen Weltanschauungen. Ja, das sind gewissermaßen kontradiktorische Einstellungen zur Welt, aber sie haben etwas gemeinsam, nämlich die Reaktion auf die Relativierung, die meiner Ansicht nach unbedingt passiert, wenn Modernität eintritt. Die Gründe - dafür haben wir kaum Zeit, die zu besprechen.

Relativismus bedeutet, dass man die Suche nach Wahrheit aufgibt und einfach sagt, es gibt keine Wahrheit, weder religiös, noch moralisch, noch irgendwie anders. Wenn es eine gäbe, wäre es wahrscheinlich gar nicht wünschenswert, sie zu erreichen. Relativismus, dann bleibt eigentlich ... die einzige Tugend, die noch übrig bleibt, ist die Toleranz. Man kann alles tolerieren, wunderbar, Kannibalismus, sehr interessant, es sind vielleicht verschiedene Meinungen, aber ich will um Gottes Willen sie nicht moralisch verurteilen.

Fundamentalismus ist gewissermaßen das Gegenteil, nämlich die Wiederherstellung einer selbstverständlichen Gewissheit: Ich oder beziehungsweise wir haben die Wahrheit, die ganze Wahrheit, absolut, und wer mit uns nicht einverstanden ist, der lebt einfach in einer dunklen Finsternis. Ich würde sagen, diese beiden gegensätzlichen Einstellungen sind beide abzulehnen, aus persönlichen Gründen, philosophischen Gründen, wenn Sie wollen.

Es gibt eine Wahrheit und man soll sie suchen, auch wenn man sie nicht ganz findet. Aber was vielleicht noch wichtiger ist: Die beiden sind gleichzeitig besonders negativ zu beurteilen von einem politischen Standpunkt aus. Relativismus bedeutet, dass ein moralischer Konsens in der Gesellschaft unmöglich ist - man kann nicht miteinander reden, man kann nicht miteinander verhandeln, denn es gibt ja nichts zum Verhandeln, und damit bricht zusammen eigentlich jede moralische Ordnung, und ohne so eine Ordnung kann eine Gesellschaft nicht überleben.

Fundamentalismus führt komischerweise zum selben Resultat: Man kann nicht mehr verhandeln und man kann nur seine eigene Wahrheit proklamieren und unter Umständen erzwingen, und das führt wieder zu einer ... entweder einem permanenten Bürgerkrieg und ist besonders gefährlich in einer Demokratie, die ohne Kompromisse nicht existieren kann. Das ist die Grundthese des Buches.

Dietrich: Im Moment guckt man ja, wenn man sich gerade mit religiösen Phänomenen beschäftigt, vor allen Dingen auf den Fundamentalismus. Den abzulehnen ist ja auch relativ leicht, wenn man sich Dinge anguckt wie Terror und Ähnliches. Wie kommt es, dass der Relativismus da so leicht ein bisschen unter dem Radar durchrutscht sozusagen?

Berger: Weil die meisten Leute, die die Gesellschaft kommentieren, Leute wie, ich nehme an, Sie und ich, also Leute in den Medien und in den Universitäten - die neigen ohnehin zum Relativismus. Das heißt, sie sehen den Feind, aber sie sehen sich nicht selbst. Und dass Relativismus zum Schluss genauso gefährlich ist wie Fundamentalismus, das liegt dann unter dem Radar sozusagen.

Dietrich: Sie empfehlen nun als Gegengift sozusagen gegen diese zersetzenden Formen der Gewissheitssuche oder eben auch Nicht-Gewissheitssuche den Zweifel. Warum den Zweifel?

Berger: Genau. Ja, der Zweifel bedeutet, dass man nicht ganz sicher ist. Der Untertitel der englischen Originalausgabe ist: "Wie kann man Überzeugungen haben, ohne ein Fanatiker zu werden?" Man hat Überzeugungen - religiöse, moralische, politische -, aber man ist nicht ganz sicher, und dieser Zweifel bedeutet eine gewisse Humanisierung. Wenn man nicht ganz sicher ist, ist unwahrscheinlicher, dass man dem anderen den Schädel einschlägt. Und das halte ich für günstig.

Dietrich: Und wie verhindert man dann, dass der Zweifel wieder zu einer Art neuen Form von Religion wird?

Berger: Na ja, in gewissen Kreisen ist das fast passiert. Ich habe vorhin gesagt, dann wird die Toleranz die einzig übrigbleibende Tugend. Das ist eine Art Religion, aber es ist eine sehr negative Religion. Alles ist akzeptabel.

Dietrich: Sie sagen, die Menschenrechte sind über jeden Zweifel erhaben. Wie kommen Sie zu diesem Satz? Es gibt ja immer wieder auch den Einwand: Auch die Menschenrechte sind in einem bestimmten kulturellen, geografischen, historischen Kontext entstanden und zum Beispiel Dinge wie die Gleichheit von Mann und Frau sind nicht so universal akzeptiert, wie das vielleicht den Anschein haben mag.

Berger: Bestimmt. Ich würde sagen, beides stimmt. Nehmen Sie das Beispiel, das Sie selbst gewählt haben, Gleichberechtigung der Geschlechter: Einen Großteil der menschlichen Geschichte sind die Leute überhaupt nicht auf diese Idee gekommen, selbstverständlich waren Männer die überlegenen Wesen. Aber langsam hat sich diese Einsicht durchgesetzt und ich würde sagen, ... das heißt, Sie haben recht, das ist historisch relativ, auch heute noch in vielen Teilen der Welt absolut nicht selbstverständlich. Aber ich würde sagen: Wenn sich diese Einsicht einmal durchgesetzt hat und im Bewusstsein verankert ist, Männer und Frauen haben gleiche Rechte als Menschen, dann würde ich sagen, impliziert das Universalität. Das heißt, ich kann nicht sagen, in Österreich oder in Amerika, Männer und Frauen haben gleiche Rechte, aber in Afrika haben sie es nicht oder im Iran oder sonstwo. Das geht nicht. Und dasselbe bezieht sich auf andere Menschenrechte, die einmal klar geworden sind: Folter, Sklaverei, was immer. Also, beides stimmt. Es ist historisch relativ, sicher, aber es wird dann zu einer Überzeugung, die Universalität impliziert.

Dietrich: Das heißt aber, diese Überzeugung muss man selber erleben, die kann nicht von außen irgendwie hereingetragen werden?

Berger: Na ja, da bin ich nicht so sicher. Ich meine, nehmen Sie eben das Beispiel, das Sie genommen haben: Es ist bestimmt eine Überzeugung, die auf Boden des Westens entstanden ist, Europas ursprünglich, aber was interessant ist: Wo immer diese Überzeugung hingetragen wird, findet sie weitgehende Akzeptanz, egal wo - in der islamischen Welt, in China, Indien und so weiter. Das heißt, diese Einsichten sind nicht beschränkt auf Leute aus einem gewissen Kulturkreis.

Dietrich: Ist das wirklich so? Also, kann man zum Beispiel in der islamischen Welt Ihre Vorstellung von einem mittleren Weg oder einer Art unaufgeregten Gewissheit, wenn ich das mal versuche zu übersetzen, kann man das da wirklich auch in Kraft setzen?

Berger: Ja, ob man es in Kraft setzen kann, hängt von vielen - vor allem politischen - Umständen ab. Also, in Saudi-Arabien, würde ich sagen, hätten Sie und ich keinen großen Erfolg, wenn wir es jetzt versuchen würden. Aber im Prinzip ist das durchaus möglich, und Sie finden überall in der islamischen Welt - interessanterweise gerade im Iran -, finden Sie Stimmen, die diese Rechte verkündigen und auch gerne institutionalisiert haben wollen.

Dietrich: Gibt es denn bei all dieser Auseinandersetzung mit der Moderne, mit der zunehmenden Relativierung irgendeinen Weg zurück in die Zeiten, in denen Religion noch nicht problematisch war?

Berger: Das geht nur auf zwei Wegen: Entweder, man versucht, die Selbstverständlichkeit einer Religion in einer ganzen Gesellschaft durchzusetzen. Das geht nur durch irgendeine Form des totalitären Staates. Das heißt, der Gedankenaustausch, die Kommunikation mit allem, was draußen ist, muss verhindert werden.

Die andere Möglichkeit ist bescheidener, nämlich, diese Selbstverständlichkeit nur innerhalb einer Subkultur, einer Art Sekte, durchzusetzen. Das geht etwas leichter als eine ganze Gesellschaft zu erobern, aber ist auch schwierig, weil Modernität bedeutet, dass überallhin Kommunikation möglich ist. Und diese Art von isolierter Weltanschauung durchzuhalten, sagen wir, in einer modernen Großstadt - es geht, aber es ist schwierig.

Dietrich: Das heißt, die Zeiten, in denen wirklich Religion oder eine bestimmte Glaubensüberzeugung das ganze Leben bestimmen kann, die sind vorbei, egal, was sich die Gläubigen wünschen würden?

Berger: Nein, es ist nicht unbedingt vorbei. Ich meine, wenn es einer religiösen Gruppe gelingt, in einer Gesellschaft einen Staat aufzurichten oder zu unterstützen, der versucht, diese Selbstverständlichkeit zu erzwingen, geht das schon, und gerade in der islamischen Welt gibt es einige Beispiele dafür. Aber diese Art von totalitärem Regime ist schwierig geworden in der Modernität und ich würde sagen, eines der erfreulicheren Resultate des 20. Jahrhunderts war, zu zeigen, dass totalitäre Gesellschaften wahrscheinlich nicht viel Zukunft haben.

Dietrich: Sie haben sich Ihr ganzes Leben mit der Frage beschäftigt, welche Gestalt Religion in der Moderne annehmen kann. Fühlen Sie sich bestätigt, wenn Sie auf die neue Bedeutung blicken, die Religion heute hat, oder sind Sie eher besorgt über die Form, die sie dabei annimmt?

Berger: Ich bin immer besorgt, ich leide an andern Sorgen, aber nein, ich würde sagen, es hat sich nichts in der letzten Zeit ereignet, was meine Grundvorstellung geändert hätte.

Dietrich: Der Religionssoziologe Peter L. Berger über Religion zwischen Fanatismus und Relativismus und warum der Zweifel ein gutes Gegengift ist. Bergers Buch "Lob des Zweifels" ist erschienen im Kreuz Verlag, es hat 180 Seiten und kostet 16,95 Euro.