Zweierlei Inflationsängste

Von Friedrich Thelen |
Noch auf dem G20-Gipfel im kanadischen Toronto versprachen sich Ende Juni 2010 die Industrieländer in die Hand, bis 2013 ihre Haushaltsdefizite zu halbieren - und mehr noch - ab 2016 sogar mit dem Schuldenabbau zu beginnen.
Einen Tag später verkündete die Bundeskanzlerin mit bedeutungsschwerer Stimme im hessischen Rüsselsheim: "Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, sondern Zukunftspolitik für unsere Kinder und Enkel". Das klang gut und hat das heimische Politpublikum sicherlich beeindruckt.

Indes die ökonomische Wirklichkeit hat sich nicht bei uns, sondern in den USA radikal verändert. Die Zahl der Ökonomen, die trotz rekordhoher Schulden nach weiteren Anschubprogrammen rufen, nimmt ständig zu. Und jeder neue Bericht über die enttäuschende Entwicklung auf dem US-Arbeitsmarkt befeuert diesen Trend. Inzwischen gibt es öffentliche Proteste, die den US-Präsidenten Barack Obama persönlich für den Verlust von hunderttausenden von Arbeitsplätzen verantwortliche machen wollen.

Da wundert es keinen, dass eine Debatte um eine geldpolitische Lockerung der Fed, der amerikanischen Zentralbank, begonnen hat. Vor dem Hintergrund der Kongresswahlen im Herbst hat vor allem die regierende Demokratische Partei Angst und drängt auf staatliches Handeln. Sprich sowohl auf Konjunkturprogramme wie auf Zinssenkungen. Durch letzteres soll mehr Liquidität in den Markt gepumpt und der Konjunktur ein weiterer Schub gegeben werden.

In der Bundesrepublik ist die Lage derzeit grundsätzlich verschieden. Die Konjunktur ist auf breiter Linie im ersten Halbjahr 2010 in Schwung gekommen. Es zeigt sich, dass die Ursachen der Krise in der Finanzwirtschaft und nicht in der Realwirtschaft lagen. Und deshalb sind in Deutschland derzeit kaum noch Stimmen zu hören, die nach staatlichen Konjunkturprogrammen rufen.

Dazu kommt noch ein Weiteres. Die Deutschen haben wegen der schrecklichen politischen Folgen der drei dramatischen Geldentwertungen im vergangenen Jahrhundert eine geradezu panische Angst vor Inflation und permanent Sorge um die Stabilität ihres Geldes. Die Argumentation, die jetzt aufgehäuften Schulden müssten spätere Generationen zurückzahlen und könnten dies nicht, findet in den USA aber gar nicht statt. Und das hat ganz einfache Gründe: Die Amerikaner leben schon seit Jahrzehnten über ihre Verhältnisse und sparen zu wenig. Das hat schon Bundeskanzler Helmut Schmidt wechselnden US-Präsidenten warnend vorgehalten - ohne damit allerdings eine Änderung zu erreichen.

Denn die mangelnde Sensibilität der Amerikaner in Sachen Inflation hat einen ganz einfachen Grund: In den letzten 50 Jahren haben andere Nationen die amerikanischen Schuldscheine aufgekauft. Über Jahrzehnte waren dies die Japaner, die derzeit 1 300 Milliarden US-Dollar an US-Bonds in ihren Tresoren halten. Und seit einigen Jahren kaufen die Chinesen US-Schuldtitel auf. Für Japan war der Grund relativ leicht ersichtlich. Der Schuldscheinkauf war ein nicht so bezeichnetes, aber in der Praxis doch so funktionierendes Entgelt für den militärischen Schutz, den die USA durch Marine und Luftwaffe Japan in der Region gewährte.

Die chinesische Motivation ist eine andere. Militärischen Schutz braucht das Reich der Mitte nicht - gegen wen auch? Hingegen fördern sie durch den Aufkauf der US-Schuldtitel den eigenen Export und damit die Entwicklung der eigenen Industrie. Die Chinesen haben gegenüber den USA nämlich einen gewaltigen Handelsbilanzüberschuss und halten ihre nationale Währung, den Renminbi, im Verhältnis zum Dollar künstlich niedrig. Täten sie dies nicht, würden ihre Exporte wegen höherer Produktpreise am amerikanischen Markt schwerer zu verkaufen sein. Bekanntlich aber setzt Peking mit aller Macht auf Exporte, um damit das eigene Land schnellstmöglich voranzubringen.

Die unterschiedlichen Ursachen für diesen Schuldenaufkauf durch Japan und China sind den Amerikanern indes völlig egal. Es kommt ihnen nur auf das Ergebnis an: Ihre Inflation wird quasi exportiert und deshalb leben sie auch nicht mit der deutschen Inflationsangst.

Dr. Friedrich Thelen, Jahrgang 1941, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie. Er war Büroleiter Berlin der Wirtschaftswoche und ist jetzt als Publizist tätig. Er hat langjährige berufliche Erfahrungen im angelsächsischen Raum.
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