Zwei Schwestern auf dem Sklavenschiff
Die Buchmesse wirft ihre Schatten – oder besser: ihre Glanzlichter – voraus und beschert uns in diesem Sommer viele hochinteressante, spannende und lesenswerte Bücher aus oder über Island. Auch der Jugendroman „Melkorkas Schweigen“ zählt zu ihnen. Er spielt im 9. Jahrhundert unter anderem unter den Wikingern und bezieht sich auf eine Island-Saga aus dem 12./13 Jahrhundert.
Die 15-jährige Melkorka ist die verwöhnte Tochter eines irischen Königs im 9. Jahrhundert. Sie und ihre kleine Schwester werden von russischen Sklavenhändlern entführt und auf einem Sklavenschiff zusammen mit vielen anderen Menschen von Irland nach Russland gebracht. Die grausame Fahrt geht weiter bis ins Schwarze Meer und über Konstantinopel zurück nach Nordeuropa, wo der isländische Häuptling Höskuld Melkorka kauft. Mit ihm segelt sie nach Island, wo sie, laut einer isländischen Sage aus dem 12. Jahrhundert, die Mutter des bedeutenden Königs Olaf wird.
Melkorka schweigt vom ersten Augenblick ihrer Gefangennahme an, um ihre Herkunft nicht zu verraten. Schnell zeigt sich, dass sie auf diese Weise Macht gewinnt nicht nur über ihre Leidensgenossen, sondern auch über ihre Entführer. In einer Zeit, in der die Männer kämpfend, tötend und vergewaltigend Macht ausüben, während die Sphäre der Frauen auf Haus und Hof beschränkt bleibt, entwickelt die schweigende junge Frau im Lauf ihrer langen Reise Klugheit und Selbständigkeit, Mitgefühl und Mut. Als Prinzessin geboren, zur Sklavin degradiert, wird sie bald zur Beschützerin ihrer Mitgefangenen. Dieser Emanzipationsprozess mag historisch vielleicht nicht ganz glaubwürdig sein, ist aber typisch und wichtig für einen Jugendroman. Er steigert die Spannung und die Dramatik und lädt seine Leser/-innen zur Identifikation ein.
Mit leichter Hand bettet Donna Jo Napoli ihre bewegende Geschichte in viele faszinierende Informationen über die Zeit der Wikinger ein. Ob Festungsanlagen oder Landwirtschaft, Gewänder, Bräuche oder die Ausrüstung der Segelschiffe – vor unseren Augen entstehen das breite Panorama und die Atmosphäre einer lange zurückliegenden geschichtlichen Epoche. Unaufdringlich und wie nebenbei sind diese Informationen eingestreut, nie fühlt man sich belehrt oder bedrängt. Vieles ist vielmehr so interessant, dass man es noch genauer wissen möchte, die isländische Saga nachliest oder die Route der Sklavenhändler über die Flüsse Russlands verfolgt.
Da Melkorka eine intelligente junge Frau ist und ihre Geschichte selbst „erzählt“, wird ihr Schweigen beredt durch eine lebendige, bilderreiche, plastische und pralle Sprache. Emotional und nachdenklich zugleich beschreibt sie ihre Er-Fahrungen präzise und sinnlich, wir fühlen und frieren, schmecken und hungern mit ihr. Aus dieser im besten Sinne unterhaltenden Erzählweise ragen einzelne Begriffe verfremdend heraus: originale Wikinger-Wörter, die unmittelbar spürbar machen, wie groß Melkorkas Abstand von und Abscheu vor den Wikingern und ihrer vermeintlichen Primitivität anfangs ist.
„Melkorkas Schweigen“ ist die Antwort einer Gegenwarts-Schriftstellerin auf eine alte isländische Saga. Wie jeder gute historische Roman verbindet das Buch akribische Recherche und freie Erfindung, Fakten und Fiktion auf eindringliche Weise. Darum kommt uns diese junge Frau mit ihren Wünschen und Hoffnungen, Ängsten und Sehnsüchten auch so modern vor. Sie ist uns nah und fern zugleich. Gut, das Donna Jo Napoli Melkorkas Schweigen gebrochen hat!
Rezensiert von Sylvia Schwab
Donna Jo Napoli: Melkorkas Schweigen
Aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Rothfuss
Verlag Sauerländer, Mannheim 2011
250 Seiten, 14,95 Euro – ab 12 Jahren
Melkorka schweigt vom ersten Augenblick ihrer Gefangennahme an, um ihre Herkunft nicht zu verraten. Schnell zeigt sich, dass sie auf diese Weise Macht gewinnt nicht nur über ihre Leidensgenossen, sondern auch über ihre Entführer. In einer Zeit, in der die Männer kämpfend, tötend und vergewaltigend Macht ausüben, während die Sphäre der Frauen auf Haus und Hof beschränkt bleibt, entwickelt die schweigende junge Frau im Lauf ihrer langen Reise Klugheit und Selbständigkeit, Mitgefühl und Mut. Als Prinzessin geboren, zur Sklavin degradiert, wird sie bald zur Beschützerin ihrer Mitgefangenen. Dieser Emanzipationsprozess mag historisch vielleicht nicht ganz glaubwürdig sein, ist aber typisch und wichtig für einen Jugendroman. Er steigert die Spannung und die Dramatik und lädt seine Leser/-innen zur Identifikation ein.
Mit leichter Hand bettet Donna Jo Napoli ihre bewegende Geschichte in viele faszinierende Informationen über die Zeit der Wikinger ein. Ob Festungsanlagen oder Landwirtschaft, Gewänder, Bräuche oder die Ausrüstung der Segelschiffe – vor unseren Augen entstehen das breite Panorama und die Atmosphäre einer lange zurückliegenden geschichtlichen Epoche. Unaufdringlich und wie nebenbei sind diese Informationen eingestreut, nie fühlt man sich belehrt oder bedrängt. Vieles ist vielmehr so interessant, dass man es noch genauer wissen möchte, die isländische Saga nachliest oder die Route der Sklavenhändler über die Flüsse Russlands verfolgt.
Da Melkorka eine intelligente junge Frau ist und ihre Geschichte selbst „erzählt“, wird ihr Schweigen beredt durch eine lebendige, bilderreiche, plastische und pralle Sprache. Emotional und nachdenklich zugleich beschreibt sie ihre Er-Fahrungen präzise und sinnlich, wir fühlen und frieren, schmecken und hungern mit ihr. Aus dieser im besten Sinne unterhaltenden Erzählweise ragen einzelne Begriffe verfremdend heraus: originale Wikinger-Wörter, die unmittelbar spürbar machen, wie groß Melkorkas Abstand von und Abscheu vor den Wikingern und ihrer vermeintlichen Primitivität anfangs ist.
„Melkorkas Schweigen“ ist die Antwort einer Gegenwarts-Schriftstellerin auf eine alte isländische Saga. Wie jeder gute historische Roman verbindet das Buch akribische Recherche und freie Erfindung, Fakten und Fiktion auf eindringliche Weise. Darum kommt uns diese junge Frau mit ihren Wünschen und Hoffnungen, Ängsten und Sehnsüchten auch so modern vor. Sie ist uns nah und fern zugleich. Gut, das Donna Jo Napoli Melkorkas Schweigen gebrochen hat!
Rezensiert von Sylvia Schwab
Donna Jo Napoli: Melkorkas Schweigen
Aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Rothfuss
Verlag Sauerländer, Mannheim 2011
250 Seiten, 14,95 Euro – ab 12 Jahren