Zwei Personen, ein Künstler

Von Julie Metzdorf |
Große und kleine Penisse, Exkremente, Blumen und Kruzifixe in knalligen Farben, junge Männer in Schwarzweiß, die Straßen des Londoner East End blutrot eingefärbt: 200 großformatige Werke prangen von den hohen Ausstellungswänden im Münchner Haus der Kunst. Auf fast allen Bildern zu sehen sind Gilbert und George selbst, mal nackt mal, mal in ihren maßgeschneiderten Anzügen, <em>zwei</em> Personen, <em>ein</em> Künstler.
Vor 40 Jahren lernten sie sich an der Londoner Kunstakademie in der Klasse für Bildhauerei kennen und wurden ein Paar, in der Kunst wie im Leben. Nach ihrer Ausbildung stehen sie mit leeren Händen da, doch sie haben eine zündende Idee: Sie erklären sich kurzerhand selbst zum Kunstwerk – zu lebenden Skulpturen – stellen sich unter eine Brücke und singen "Underneath the arches", eine Art Verbrüderungssong mit Obdachlosen.

Als singende Skulpturen tingeln sie fortan durch Galerien und haben Erfolg. Doch mit den Live-Auftritten erreichen sie nicht viele Menschen. Sie beginnen sich zu filmen und zu fotografieren. Schließlich sind sie nicht nur Kunst objekt, sondern immer auch noch Künstler mit einer Botschaft:

Gilbert: "Menschlichkeit. Die Fähigkeit, uns selbst unter allen Bedingungen zu akzeptieren. Wir glauben einfach, dass Menschen nur dann besser werden, wenn wir verständnisvoller werden und fähiger, uns selbst besser zu verstehen."

George: "Wir wissen, dass die Welt sich unter enormen Schmerzen dreht. Genau jetzt werden Menschen getötet wegen ihrer Überzeugungen. Wir möchten helfen das Leben … kunstvoller zu machen. Das jeder Mensch mehr er selbst ist."

Ihre eigene Selbsterkundung vollziehen Gilbert und George öffentlich. Sie wird zur kompromisslosen Selbstentblößung. Nackt und in allen erdenklichen Positionen treten sie den fremden Betrachtern in ihren Fotografien entgegen. Die Schwarzweiß-Aufnahmen werden vergrößert, auf die größten erhältlichen Bögen Fotopapiers übertragen und teilweise mit der Hand koloriert.

Am Ende werden die schwarz gerahmten Einzeltafeln ohne Lücke nebeneinander gehängt und ergeben so die riesigen Gesamtkompositionen. Vor einigen Jahren haben sie auf Digitaltechnik umgestellt. Das Medium spielt für Gilbert & George keine Rolle, sie nennen ihre Werke einfach "pictures" oder sprechen von Skulpturen. Wichtig ist einzig der Inhalt und da ist das zentrale Thema wie eh und je die Sexualität.

Gilbert: "Ohne Sex wären wir nicht hier! Ich glaube wirklich, dass Sex Gott ist."

George: "Wir glauben an das Sperma. Es ist die größte treibende Kraft auf der Erde. Alle unsere Entscheidungen basieren auf Sexualität."

Ein Bild mit den Künstlern in Rückenansicht, vornübergebeugt und mit den Händen auf ihre Körperöffnung weisend, will gar nicht provozieren. Was Gilbert und George wollen ist Normalität. Um den Betrachter zu erreichen, locken sie ihn mit Ästhetik.

George: "Wir glauben, dass wir Schönheit auch an all den Orten finden können, die gewöhnlich nicht als schön gelten. Und wir benutzen die Schönheit um unsere Botschaft zu verbreiten."

"Sei stets elegant gekleidet, gepflegt entspannt, freundlich höflich und völlig Herr der Lage" lautet das erste ihrer "Laws of sculptors", den Bildhauergesetzen für sich selbst. George, der Brite, mit der seit 40 Jahren gleichen Brillenform, ist in hellbeige gekleidet. Der aus Südtirol stammende etwas kleinere Gilbert in Grau.

Die konservativen Altherrenanzüge und die zu jeder Zeit korrekten Manieren der beiden stehen in spannungsvollem Kontrast zu Bildern, in denen sie gerade ihre Unterhosen abstreifen. Oder zu den riesigen Vergrößerungen von Spuke, Blut, Urin, Sperma und Kot.

George: "Wir müssen erkennen, dass auch in Scheiße Schönheit steckt. So wie Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, die Schönheiten der Natur zu entdecken: Schau dieser Käfer auf dem Baum, wie schön er ist. Oder schau diese Felsformen. Warum gilt das nicht für Scheiße?"

Tatsächlich sehen die Exkremente in der extremen Vergrößerung eher wie vertrocknetes Brot oder ein misslungener Kuchen aus. Blut unter dem Mikroskop betrachtet sieht aus wie ein mittelalterliches Kirchenfenster und Urin erinnert an Blümchentapete.

Spätestens nach der Betrachtung der Röntgenaufnahmen von Gilbert und Georges Penissen, beginnt die Ausstellung wie eine Art Therapie zu wirken. Die Scham, dass man gerade einen Penis angeschaut hat, verschwindet. Man glaubt, nun könne nichts mehr schockieren, doch Gilbert und George übertreffen sich immer wieder. Etwa in dem Bild eines Kreuzes, dessen Balken von vergrößerter Penishaut ausgefüllt werden. In der Mitte prangt ein liebliches Kindergesicht mit teuflisch roten Augen.

Gilbert: "Wir finden zunehmend: Religion muss verboten werden! Ich glaube wirklich, dass Religion schlecht für die Menschen ist. Sie stiftet im Grunde nur Unfrieden, und hinter allem stehen diese Dogmen. Die Religion versucht uns vorzuschreiben, wie wir uns verhalten sollten. Und sie sagt immer, es sei Gottes Wille. Tatsächlich ist die Religion von Menschen gemacht."

George: "Sie lügen."

Aufgerüttelt wird der Betrachter in dieser Umgebung aus Sperma, aus Zungen und Mündern, aufreizenden Posen und orgiastischen Blicken durch die leisen Motive. Gilbert an Georges Schulter lehnend. Ein Bild, auf dem sich beide an den Händen fassen. Eine Profilaufnahme, auf der man ihre sinnlichen Lippen bemerkt. Oder wenn auf George einen wunderschönen, indisch wirkenden jungen Mann auf seinen überdimensionierten Händen trägt und Gilbert seinerseits seine Hände schützend über ihn hält. Neben der unglaublich kraftvollen Poesie dieser Motive verblassen die vielen nackten Körper mit all ihren Flüssigkeiten. Sie sind viel zu normal.

Service:

Die Schau "Gilbert & George – Die große Ausstellung" ist im Haus der Kunst in München bis zum 9. September 2007 zu sehen.