Zwei Opernfestspiele der besonderen Art

Von Tilman Krause |
Der alten Gattung der Spieloper widmen sich die "Ludwigsburger Schlossfestspiele". In diesem Jahr kam hier "Alceste" von Anton Schweitzer mit brillanten Sängern zur Aufführung. Beim Opernfestival in Selzach bei Solothurn in der Schweiz stand der selten gespielte Einakter "Viva la Mamma" von Gaetano Donizetti auf dem Programm.
Auch die musikalischen Sommerfestspiele sind nicht mehr das, was sie mal waren. Kam dort früher noch das selten Gespielte zu seinem Recht, hat sich in letzter Zeit das Repertoire immer stärker an den allgegenwärtigen Mainstream angeglichen. Nur die kleineren Festivals machen da noch eine Ausnahme. In diesem Theaterfeuilleton soll es um zwei von ihnen gehen.

Da wären zunächst die Ludwigsburger Schlossfestspiele. Auf dem ältesten noch bespielten Barocktheater Deutschlands ist man seit Jahren schon auf Stücke abonniert, die auch in der großen Zeit von Ludwigsburg, als die Residenz der Württemberger Herzöge zu den glanzvollsten Höfen Europas gehörte, auf dem Spielplan hätten stehen können. Die 60er, 70er Jahre des 18. Jahrhunderts waren dank des verschwenderischen Kunstfreundes Carl Eugen nicht nur ein Höhepunkt feudaler Prachtentfaltung und Förderung der Architektur, der Malerei, des Tanzes und der Musik. Nein, in diesen Zeitraum fällt auch die Geburt einer spezifisch deutschen Gattung, der sich nicht nur Mozart, sondern auch viele seiner heute unbekannten Zeitgenossen gewidmet haben: die Spieloper.

Eines der erfolgreichsten Exemplare dieser Gattung war die 1773 in Weimar uraufgeführte "Alceste" Anton Schweitzers (1735-1787) auf ein Textbuch des Dichters und damaligen Prinzenerziehers Christoph Martin Wieland (1733-1813). Sie zählt zu den meistaufgeführten Opernmusiken des 18.Jahrhunderts überhaupt! Es ist ein Stück über belohnte Gattenliebe: Alceste bietet sich den Göttern als Opfer an, wenn nur ihr Mann, König Admet, der im Krieg gefallen ist, dadurch von den Toten wiederauferstehen kann. Herkules schaltet sich ein, und am Ende bleibt Alceste am Leben und Admet wird zum Leben wiedererweckt. Das Stück, das als klassisch barocke opera seria beginnt und im zweiten Teil sehr reizvolle lyrisch-romantische Partien aufweist, wurde nun in Ludwigsburg unter der musikalischen Leitung des Chefdirigenten des Stuttgarter Kammerorchesters Michael Hofstetter mit brillanten Sängern in allen emotionalen Höhen und Tiefen der dramatischen Partitur vorzüglich ausgelotet.

Jan Hoffmann hat sich dabei um eine relativ karge Ausstattung bemüht, in der ein angeschrägter Bretterboden mit auf- und ausklappbaren Planken den Werkstattcharakter der Aufführung stark betont. Die in Kostümen von heute steckenden Sänger befleißigen sich der zeremoniösen Körpersprache des Rokoko, deuten andererseits mit ihrer Gegenwartskleidung aber auch das Experimentelle an, das der "Alceste" in ihrer Entstehungszeit angehaftet haben muss, als auf Deutsch gesungene antike Sujets noch neu waren und sowohl der Komponist Schweitzer als auch der Dichter Wieland versuchten, eine Synthese aus ritualisierter mythologischer Formensprache und Melismen der Empfindsamkeit herzustellen. Die Reduktion auf lediglich fünf Protagonisten, die meist in Solonummern, ganz selten nur in einem Duett zu hören sind, betont den intimen Charakter des "Seelendramas" der Alceste und fügt sich gut in die Atmosphäre eines gehobenen Liebhabertheaters ein, die von dem reizvollen Theaterraum ausgeht, der ebenfalls die Stile vermengt und zwar das Rokoko mit dem Klassizismus.
Zwischen der szenisch zurückhaltenden Seelenzergliederungskunst in Ludwigsburg und der alle Register szenischen Aufwands ziehenden neuen Produktion in Selzach bei Solothurn in der Schweiz könnte der Kontrast größer nicht sein. Dabei hat sich auch der hier nun zum zweiten Mal inszenierende Leiter, Thomas Dietrich, für eine Spieloper entschieden, allerdings eine burleske, quirlige, italienische Variante dieser Spezies: den selten gespielten Einakter "Viva la Mamma" von Gaetano Donizetti (1797-1848) – eine Persiflage auf Sitten und Unsitten am Theater. Die Inszenierung ist allerdings "getrüffelt" mit musikalischen Zitaten aus anderen, bekannteren Donizetti-Opern, vor allem aus der "Lucia di Lammermoor", aus dem "Liebestrank" und "Don Pasquale".

Geschickt greift Thomas Dietrich auch die Tradition der Passionsspiele auf, die früher in Selzach stattfanden, indem er immer wieder lebende Bilder einstreut, wie man es von den Oberammergauer Festspielen gewohnt ist. Sind es dort die Leidensstationen Christi, so hat Thomas Dietrich in seiner "Mamma" Szenen aus vorangegangenen Selzacher Opernaufführungen eingebaut, denn dieses kleine, aber hochfeine Opernfestival, das im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindet, kann dieses Jahr ein kleines Jubiläum feiern: Donizettis "Viva la Mamma" ist seine zehnte Produktion seit 1989, als der Spielbetrieb in dem lange Zeit ungenutzten, jedoch authentisch erhaltenen Passionsspielhaus 1989 in veränderter Form wiederaufgenommen wurde.

Diese Neuinszenierung passt geradezu perfekt in die "Selzacher Dramaturgie", wenn man so sagen will, die sich unter dem Festival-Begründer Hans-Jörg Hack in fast zwei Jahrzehnten herausgeprägt hat und die sein Nachfolger Thomas Dietrich kongenial vor drei Jahren übernahm und nun weiterführt. Diese "Selzacher Dramaturgie" meint ein liebevolles Sichversenken in jene Spielopern vom Schlage "Wildschütz", "Zar und Zimmermann", "Freischütz" oder "Martha", die die Beliebtheit des Opernfestivals Selzach ausmachen. Bereits mit seiner Flotow’schen "Martha" hat Thomas Dietrich vor drei Jahren ein Maximum an psychologischer Einfühlung, szenischer Phantasie und poetischer Bühnenästhetik an den Tag gelegt (woran der phänomenale Ausstatter Oskar Fluri, in Selzach seit 1989 dabei, ebenfalls einen hohen Anteil hat).

Mit Donizettis Satire ist Dietrich dasselbe noch einmal gelungen. Hatte er "Martha" in die zwanziger Jahre verlegt, so spielt seine "Mamma" in den frühen Fünfzigern. Wie hier das Komödiantische ausagiert wird anhand der beiden Primadonnen, von denen die eine, Mamma Agata, als Bass-Buffo angelegt ist, was Nikolas Meer nahezu genial umzusetzen weiß (sängerisch wie darstellerisch), aber auch wie hier die menschlichen Konflikte in den Charakterpartien aufgespürt und szenisch interpretiert werden – das ist einzigartig. Thomas Dietrich ist vielleicht zur Zeit der einfühlsamste Regisseur, der sich für dieses sehr spezifische Repertoire der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts denken lässt. Man hat den Eindruck, dass er sozusagen jeden Ton inszeniert, so abwechslungs- und einfallsreich ist seine Regie.

Und ob es nun seiner ordnenden Hand zuzuschreiben ist oder dem Genius Loci dieses sehr speziellen Aufführungsortes im Schweizer Jura oder auch dem semi-professionellen Charakter des Festivals, in dem Chor und Technik von Laien gestellt werden: es entfaltet sich hier eine Spielfreude, die doch immer künstlerisch auf der Höhe bleibt, wie man sie bei rein professionellen Unternehmungen nur noch sehr selten findet. So nimmt es denn nicht Wunder, dass die meisten Sänger tragender Partien immer wieder nach Selzach kommen und ihrerseits über die Jahre hinweg ein festes Ensemble herausgebildet haben, allen voran die virtuose, jugendfrische Koloratur-Sopranistin Maria Leyer (in der "Mamma" als Primadonna Corilla Sartinecchi zu erleben) sowie der ausdrucksintensive, volltönende Bass Richard Ackermann (bei Donizetti der Komponist Vincenzo Biscroma). Die musikalische Leitung liegt bei Bruno Späti in guten Händen. Das Orchester geleitet die Sänger präzise und dezent durch das rasante Stück.

Ein Ohren- aber auch – dank der größtenteils ungemein prachtvollen Kostüme (ca. 130 verschiedene sind es dieses Mal an der Zahl) – ein Augenschmaus ist dieses Jahr in Selzach wieder garantiert. Es wird nicht mehr lange ein Geheimtipp bleiben. Schon jetzt ist es das kostbarste Juwel, mit dem sich Solothurn schmücken kann, das gern als "schönste Barockstadt der Schweiz" für sich Reklame macht.


Sie können das Live-Gespräch mit Tilman Krause zum Thema mindestens bis zum 10.1.09 als MP3-Audio in unserem Audio-on-Demand-Player nachhören.