Zwei Brüder und ein Fluch

Blutrünstiger geht es kaum: In dem Bergdorf Erto sterben andauernd Menschen, und nicht nur durch Unglücksfälle. Immer mal wieder hilft jemand nach. Verbrechen aus Leidenschaft sind an der Tagesordnung in der archaischen Welt, die der Held und Ich-Erzähler Zino vor uns ausbreitet.
Ein Fluch scheint auf ihm und seinem jüngeren Bruder Bastianin zu lasten, denn als sie noch Kinder waren, hatte ein Mann ein Auge auf ihre Mutter geworfen und dem Vater den Schädel gespalten. Die Mutter starb an gebrochenem Herzen, eine Tante führte von nun an den Haushalt, Zino verdingte sich als Waldarbeiter, Bastianin ging beim Dorfschmied in die Lehre.

Als Erwachsene haben beide ein Auskommen, aber sobald eine Frau im Spiel ist, gibt es ein Unglück. Die Verlobte Bastianins wird von einem eifersüchtigen Rivalen mit Tollkirschen vergiftet und landet im Irrenhaus, die erste Geliebte Zinos treibt ein Kind ab und geht daran zugrunde. Es kommt aber noch viel schlimmer: Biblische Verstrickungen, Verrat und Mord erhalten Einzug in Erto und lassen Zino nie wieder los.

Der Schriftsteller Mauro Corona, 1950 in einem friaulischen Bergdorf geboren, Autodidakt und in Italien zuverlässiger Produzent von Bestsellern, beginnt seinen Roman "Im Tal des Vajont" mit einem Prolog. Im Winter 2003 habe ein Unbekannter ihm ein altes Heft gebracht, auf das er bei der Renovierung seines Stalles gestoßen sei. Es stamme von einem Mann, der denselben Nachnamen wie der Schriftsteller trage und vielleicht ein entfernter Verwandter sei. Corona nimmt das Geschenk an, vertieft sich in die Lektüre und bringt den Inhalt schließlich erneut zu Papier.

Ob die Herausgeberschaft fingiert ist oder nicht, ist unerheblich. Sie erlaubt dem Autor, im Hauptteil bestimmte ästhetische Verfahren zu verwenden. Zinos Sprache ist schlicht, bildhaft, zupackend und von Wiederholungen durchsetzt. Im Original sind nicht einmal die Verben konjugiert, was der Übersetzer Helmut Moysich glücklicherweise geglättet hat: Im Italienischen mag dieses Stilmittel urtümlich wirken, auf Deutsch hätte es einen gänzlich anderen Effekt gehabt.

"Im Tal des Vajont" entwickelt einen starken Sog. Der Roman erinnert an ein Schauermärchen, die drastischen und deftigen Momente bedienen die Grusellust des Lesers. Der Spannungsbogen speist sich auch aus dem tiefen Fatalismus des Helden. Zino wirkt fast unbewegt, wie er den Gang der Geschehnisse entfaltet, so als sei der Mensch nur ein Spielball untergründiger Kräfte. Erotische Leidenschaft wird zum Fatum einer ganzen Dorfgemeinschaft.

Dass Mauro Corona in Italien so erfolgreich ist, hängt aber vor allem mit dem Trauma der Industrialisierung zusammen. Der Bruch mit der agrarischen Gesellschaft vollzog sich in vielen Landstrichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Schmerz der Entwurzelung ist bis heute ein Thema der Literatur. Plastisch schildert Mauro Corona die Gebräuche, Handwerke und den Jahresrhythmus im Einklang mit der Natur. Die bäuerliche Lebenswelt wird nicht idealisiert, im Gegenteil. Aber Corona erobert die Vergangenheit als erzählerischen Raum zurück.

Besprochen von Maike Albath

Mauro Corona: Im Tal des Vajont
Aus dem Italienischen von Helmut Moysich
Graf Verlag, München 2012
303 Seiten, 18 Euro