Zutritt verboten!

Von Luise Sammann |
Istanbul ist nicht nur attraktiver Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt. Die Anzeichen mehren sich, dass die türkische Regierung mit der Stadtplanung der 15-Millionen-Metropole überfordert ist. Die willkürliche und gedankenlose Zerstörung historischer Bausubstanz, das tägliche Verkehrschaos, die Zerstörung der Natur und die Hilflosigkeit gegenüber der akuten Erdbebengefahr wachsen zu immer drängenderen und nach wie vor ungelösten Problemen heran.
Und so nehmen die, die es sich leisten können, ihr Glück selbst in die Hand. Das Ergebnis sind sogenannte "Gated Communities": ganze Stadtteile in bester Lage mit Hunderten von exakt gleichen Hochhäusern entstehen über Nacht. Moderne Plattenbauungetüme nicht für die Armen, sondern für die Reichen. Wachmann vor dem Haus inklusive.

Der quadratische Spielplatz mit seinen rotblauen Schaukeln und Wippen, der quietschgelben Rutsche und der Sandkiste wirkt wie eine Miniaturausgabe. Er könnte als Modell in einem Architekturbüro stehen. Irem Aksu, die auf einer Bank am Rand sitzt, ist Teil des Bildes. Auch sie wirkt unwirklich klein hier…

Die 16-stöckigen hellgelben Hochhäuser, die die 33-Jährige und den Spielplatz umsäumen, lassen alles und jeden hier winzig erscheinen. Neun sind es insgesamt, jedes einzelne über dem Eingang mit einer großen Nummer versehen: C1, C2, C3 und so weiter… Irem Aksu lässt den Kinderwagen, in dem ihr einjähriger Sohn schläft für einen Moment los und zeigt mit dem Finger auf das Haus mit der Nummer C5, lächelt dabei stolz.

Irem: "”Wir wohnen in dem Haus dort, im dritten Stock. In jedem Haus sind zwischen 64 und 68 Wohnungen. Wir haben einen Gärtner, der sich auch um den Pool kümmert. Und dann das Technik-Team: Wenn der Abfluss verstopft ist oder wenn man einen Nagel in die Wand hauen will - für jede Reparatur rufen wir den Hausmanager und dann kommt das Technik-Team. Für alles ist jemand zuständig.""

Vor knapp zwei Jahren sind Irem Aksu und ihr Mann hierher, nach Atasehir gezogen. Ein Viertel im asiatischen Teil von Istanbul, über die innerstädtische Autobahn eine halbe Stunde vom Bosporusufer entfernt. Vor 10 Jahren gab es hier nur Huckelpisten und selbstgebaute Hütten – heute reihen sich Hunderte von Hochhausblöcken an der frisch asphaltierten Straße auf. Ihr kleiner Sohn, sagt Irem, und wirft einen liebevollen Blick in den Kinderwagen, soll hier sicher und behütet aufwachsen… Während Irem auf ihrer Bank sitzt, während sie ihren Sohn aus dem Kinderwagen hebt und in ihrer Einkaufstüte nach einem Keks sucht – während all dieser Zeit sind von allen vier Seiten des Geländes die dunklen Augen von Überwachungskameras auf sie gerichtet. Hier, sagt Irem, fühlt sie sich sicher!

Irem: "”Einer der größten Vorteile hier ist die Sicherheit. Das Wachpersonal am Eingang überprüft genau, wer hier rein und rausgeht. Wir haben vorher in einem anderen Stadtteil gewohnt. Wenn ich abends nachhause kam, hatte ich oft Angst. Aber hier fühle ich mich sicher, sobald ich die Sicherheitskontrolle erreicht habe.""

Wer keinen Bewohnerausweis hat und nicht namentlich als Besucher angemeldet ist, kann das Gelände, auf dem Irem mit ihrem Sohn sitzt, nicht betreten - und auch keine der anderen Anlagen in der Umgebung. Nur die Hauptstraße hier ist noch öffentlicher Raum - jede Zufahrt, jeder Rasenstreifen und jeder Spielplatz dagegen streng überwachtes Privatgelände. Genau deswegen ziehen Tausende von wohlhabenden Istanbulern jedes Jahr hierher: In Hochhaussiedlungen, die einem das Gefühl geben, wie Alice im Wunderland zusammengeschrumpft zu sein ...

Allein in den letzten fünf Jahren entstanden im Raum Istanbul mehr als 250.000 Wohnungen in so genannten Gated Communities, geschlossenen Wohnanlagen. Projekte mit Namen wie "Istanbul Palace", "Royal Center" oder "My World". Projekte, in denen private Wachunternehmen jeden Quadratzentimeter schützen, Gärtner handtuchgroße Rosenbeete pflegen und in die oft Shoppingcenter, Supermärkte und Swimmingpools integriert sind.

Unzählige Großbaustellen in den Außenbezirken von Istanbul zeigen, wie groß die Nachfrage ist. Nur ein paar Hundert Meter von Irem Aksus Wohnung entfernt, entstehen die "Sehir Isiklari", die "Lichter der Stadt". Drei Wohnblöcke, 111 Wohnungen!

Ali Demiral - grauer Anzug, trotz Baustaub immer glänzende, schwarze Schuhe - ist für die Vermarktung zuständig.

Demiral: "”Der Durchschnittspreis für diese Wohnungen liegt zwischen 140 und 150.000 Euro. Das hängt von der Seite des Gebäudes und dem Stockwerk ab.""

Zwei winzige Kinderzimmer, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer gibt es für den Preis - und 110 Nachbarparteien. Ali Demirals Geschäft brummt. Die meisten der Wohnungen sind schon verkauft, obwohl von den "Lichtern der Stadt" noch nicht viel mehr als ein überdimensionales Betongerippe in den Himmel ragt. Auch hier heißt das Hauptthema Sicherheit.

Demiral: "Für die Sicherheit sorgen wir vor allem elektronisch. Kamerasysteme, Freisprechanlagen, und Wachpersonal. Kameras sind dabei nicht nur für die Sicherheit da, sondern bieten auch Videoverbindungen zwischen den 111 Wohnungen. Zusätzlich können die Bewohner ihre Kinder über Kameras ständig auf dem Spielplatz draußen beobachten."
Demiral zeigt aus einem der Löcher, die einmal die Fenster werden sollen, hinaus auf die Baustelle, die einmal ein Spielplatz wird. Nur wenige Meter dahinter reihen sich ein paar windschiefe, bunt angepinselte Häuser aneinander. Wäscheleinen baumeln aus den Fenstern, Frauen in weiten Röcken und geblümten Kopftüchern sitzen in einem Hauseingang und knacken Sonnenblumenkerne. Vor allem anatolische Immigranten, Kurden und Roma leben hier. Ihre Häuser haben sie meist illegal, ohne Baugenehmigung über Nacht hochgezogen und über Jahrzehnte weiter ausgebaut … Dafür, dass es keine Probleme zwischen den alten und den neuen Bewohnern des Viertels geben wird, dafür wird gesorgt, erklärt Demiral. Die Rede ist von Zäunen, Mauern und natürlich Wachpersonal.

Demiral: "Es wird keine Vermischung geben. Warum? Weil das Profil unserer Kunden und das Profil der Menschen, die schon hier leben, nicht zusammenpassen. Dieses Viertel wird das Zigeunerviertel genannt. Das war kein Ort, an dem man Wohnungen kaufte. Wenn einem hier sein Auto kaputt ging, dann rief man lieber gleich die Polizei. Aber jetzt zahlen die Leute Millionen um hier zu leben. Mit der Zeit werden sich die dort unten entweder an die neue Sozialstruktur hier gewöhnen oder sie werden an andere Orte ziehen, die ihrem Standard eher entsprechen."

Demiral spricht ohne Wertung oder gar Arroganz in der Stimme. Er beschreibt ganz einfach die Realität. Seine Firma jedenfalls verdient im so genannten Zigeunerviertel im Moment jede Menge Geld. Vor allem mit dem Verkaufsargument Nummer eins:

"Bei der Abschottung gegen die Vororte geht es vor allem um Sicherheit. Sie geht gegen Diebstahl und Straßenkriminalität. Das Kind soll in der Sicherheit des Wohnkomplexes aufwachsen und nicht mit dem da draußen konfrontiert werden."

Das ist auch der Traum von Cetin und Semra Karadeniz. Das Ehepaar ist zur Wohnungsbesichtigung nach Atasehir gekommen. Gerade haben sie sich ein Zweizimmerapartment angeguckt. 150.000 Euro soll es kosten - die beiden sind schon fast entschlossen. Die Entscheidung fällt leicht, erklärt Cetin.

"Die gute Verkehrsanbindung, die Nähe zum Zentrum und die Sicherheit ... Istanbul ist die größte Metropole der Türkei. Da sind Kriminalität und Sicherheit ein aktuelles Thema. Also ist das der erste Grund für uns. Und dann auch das Soziale. Hier leben bessere Menschen, das hängt mit dem Geld zusammen …"

Sicherheit – immer wieder Sicherheit… Und das, obwohl Istanbul in der internationalen Kriminalitätsstatistik weit hinter Städten wie London oder Berlin rangiert. Sogar innerhalb der Türkei selbst gilt die Bosporusmetropole trotz Bevölkerungsexplosion und wachsender sozialer Kluft als vergleichsweise sicher. Doch das Wort Sicherheit ist zum magischen Verkaufsargument der zahlreichen Bauunternehmen geworden, die mit billionenschweren Budgets den Werbemarkt der Türkei überschwemmen und für ihre Gated Communities werben. Und noch einen Zweck scheint das ständige Erwähnen der Sicherheit zu haben. Es sorgt dafür, dass niemand aussprechen muss, worum es eigentlich geht! Auch Cetin Karadeniz’ Frau Semra zögert erst einen Augenblick – und sagt dann doch, was wohl die meisten ihrer zukünftigen Nachbarn angelockt hat: Man ist eben gern unter sich!

Semra Karadeniz: "”Es gibt keine Stabilität mehr in Istanbul. Die Kulturen vermischen sich mit der Migration aus den Dörfern in die Städte. Diese Leute gewöhnen sich nicht an die Stadtkultur, sie bringen ihre eigene Kultur mit und das verursacht Chaos. Dieses Chaos ist nicht gut. Ich sehe lieber Betonblöcke um mich als dieses Chaos!""

Ortswechsel: auf der anderen Seite des Bosporus, mitten im europäischen Teil der Stadt, herrscht wirklich Chaos. Hier liegt das für seine Cafes und Bars, für seine Schwulenszene und seine Künstlertreffs bekannte Viertel Beyoglu. Und hier lebt der 30-jährige Tayfun Karaman in einem 110 Jahre alten Haus. Niemals würde er in eine Gated Community ziehen, sagt der Stadtplaner, der das Phänomen und seine Folgen in Istanbul mit Sorge betracht.

Karaman: "Gerade Städte, in denen das Gefälle sehr groß ist, bieten sich für diese Entwicklung an. Zum Beispiel Sao Paolo, da gibt es extreme Beispiele. Die Leute kommen von einem Ort zum anderen, ohne nur eine öffentliche Straße zu betreten. Soweit ist es vielleicht in Istanbul noch nicht. Aber Die Oberschicht läuft doch offensichtlich von den Orten davon, die die Mittel- und die Unterschicht nutzen."

Doch Tayfun Karaman sorgt sich nicht nur um die Menschen. Nicht umsonst lebt er in einem historischen Haus, das er hegt und pflegt – während ansonsten in ganz Istanbul osmanische Villen verfallen. Im Februar 2011 will die UNESCO endgültig darüber entscheiden, ob Istanbul von der Liste des Weltkulturerbes gestrichen - und stattdessen auf die Liste bedrohten Kulturerbes gesetzt werden soll. Auch die Projekte der Gated Communities - die "Star Towers", "Bosphorus Citys" und wie sie alle heißen - sind dafür mitverantwortlich.

Denn während sich die Spaltung der Gesellschaft in Südafrika oder Amerika vor allem in schicken, stacheldrahtumzäunten Villen ausdrückt, toppen sich Istanbuls Paläste aus Platzmangel vor allem in der Höhe. So wird Stück für Stück die Jahrtausende alte, Unesco-geschützte Silhouette von Istanbul zerstört. Die historische Skyline der Altstadt sozusagen, mit ihren Minaretten und historischen Häusern, von der jedes Jahr Tausende von Postkarten verschickt werden.

Karaman: ""Wenn man über den Bosporus nach Istanbul hereinkommt, sieht man auf der einen Seite das asiatische Viertel Kadiköy, auf der anderen Seite den historischen Topkapi-Palast. Aber wenn man jetzt hinguckt, dann sieht man dahinter Wolkenkratzer und Hochhäuser wie Pilze wachsen. Es sollte unsere Verantwortung sein, die Silhouette dieser großartigen Stadt, die die Hauptstadt dreier Weltreiche war, zu schützen. Aber wir haben es nicht geschafft ...”"

Kultur-, Umwelt- und Denkmalschützer haben in den letzten Jahren nur selten Gehör gefunden, wenn in Istanbul neue Projekte geplant wurden. Zu riesig sind die Summen, die mit dem Bauboom zu verdienen sind. 30 Prozent des Istanbuler Bruttoinlandsprodukts, so heißt es, werden allein hier erwirtschaftet – Tendenz steigend. Und so bahnen sich die Bagger immer weiter und immer dreister ihren Weg: "Acarkent” zum Beispiel, ein Projekt für mehr als 1500 Wohnungen, wurde mitten in ein Naturschutzgebiet hinein gebaut – der Flächennutzungsplan im Nachhinein noch schnell im Sinne des millionenschweren Projekts geändert. Auch ganze Stadtviertel stehen längst auf dem Spiel. Bestes Beispiel ist das historische, ehemals griechische Viertel Fener am Ufer des Goldenen Horns.

Auch hier ist ein exklusiver Wohnbezirk für reiche Bewohner geplant. Noch säumen kleine osmanische Häuser die engen Gassen, hier und da blättert rosa Putz von den Fassaden. Ein kleines Dorf mitten in Istanbul, so scheint es, das seit Jahrhunderten dicht besiedelt ist. Nun soll es weg! Die Bewohner sind oft kurdische Familien – ohne viel Geld und ohne viel Macht gegen die Stadterneuerungspläne der Regierung. Cigdem Sağ, der hier ein kleines, frisch restauriertes Haus gehört, will trotzdem nicht einfach klein beigeben.

"”Die Menschen in diesem Viertel leben hier seit Generationen. Zum Beispiel unser Nachbar Önder. Sein Großvater ist in Fener aufgewachsen, dann sein Vater, er selbst und nun seine Kinder. Wir sind nicht nur gegen die Zerstörung unserer Häuser. Wir sind auch gegen die Zerstörung unserer Nachbarschaftskultur, wir protestieren dagegen, dass das Ganze keinerlei soziale Seite hat.”"

Längst hat die Unesco Teile von Fener zum Weltkulturerbe erklärt. Viele der heruntergekommenen Häuser wurden außerdem gerade erst mit EU-Geldern liebevoll restauriert. Doch Kultur hin oder her: Die Lage am Goldenen Horn ist exklusiv und jeder Quadratmeter hier lässt sich teuer verkaufen. Und so hat die Stadtregierung die Rechte an den Grundstücken, die sich von der Uferpromenade bis zur zweiten Parallelstraße reihen, einfach an ein privates Bauunternehmen verkauft – ohne die Einwilligung von Eigentümern wie Cigdem Sağ.

"”Sie haben einfach entschieden, uns unsere Häuser wegzunehmen. Sie haben sich mit einer Firma über den Preis geeinigt, ohne, dass ich überhaupt gefragt wurde, geschweige denn meine Erlaubnis gegeben hätte. Und dann gehört die Baufirma auch noch dem Schwiegersohn des Premierministers. Das ist doch alles eine einzige Komödie!”"

Die offizielle Begründung der Regierung ist einfach: die Häuser in Fener seien alt, nicht erdbebensicher gebaut, müssten folglich weg. 1000 Lira, etwa 500 Euro, soll Cigdem pro Quadtratmeter kriegen, wenn sie ihr Haus verkauft. Wer sich weigert, wird für noch weniger Geld zwangsenteignet. Später, wenn aus Fener ein Luxusviertel geworden ist, könne sie ihr Grundstück ja zurückkaufen, hat man ihr angeboten. Dann allerdings zum sechsfachen Quadratmeterpreis.