Zustände im Flüchtlingslager Kara Tepe

Unsere verlorene Unschuld

04:04 Minuten
Menschen im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos in Griechenland säubern ihre Zelte nach einem starken Regensturm, aufgenommen am 14. Oktober 2020
Flüchtlingslager Kara Tepe: Journalisten dürfen offiziell nicht hinein, NGOs müssen unterschreiben, dass sie nicht über das Lager berichten, sagt Sieglinde Geisel. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Panagiotis Balaskas
Ein Kommentar von Sieglinde Geisel · 15.01.2021
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Washington und Pandemie - das sind die Themen dieser Tage. Die katastrophale Situation in Flüchtlingslagern gerät aus dem Blick. Zumal die Berichterstattung behindert wird. Doch sage keiner, er habe nichts gewusst, mahnt Publizistin Sieglinde Geisel.
Was gehen uns die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen an? Muss es uns kümmern, dass Menschen in EU-Lagern im Schlamm schlafen, ohne sanitäre Anlagen und auch im Winter ohne Heizung oder warme Mahlzeiten?
Als Moria brannte, las man darüber in den Zeitungen, danach gab es die eine oder andere Reportage über die unsäglichen Bedingungen im Nachfolgelager Kara Tepe. Und jetzt gerade wird über die verzweifelte Lage der Flüchtlinge in Bosnien berichtet.

Journalisten dürfen offiziell nicht ins Lager

Die verstörendsten Bilder jedoch erreichen mich eher zufällig: auf den sozialen Medien, auf Youtube oder in Newslettern. Sie solle Zeltseile, Lammfelle und Wäschekörbe nach Kara Tepe mitbringen, berichtet eine Aktivistin. Babys werden in Felle gewickelt und in Wäschekörbe gelegt, die man dann im Zelt aufhängt, so versuchen die Eltern, die Kleinsten vor Nässe, Kälte und Ratten zu schützen.
Ich sehe Handyvideos von überfluteten Zelten und nassen Decken, begleitet von der Bemerkung, die Aufnahmen seien "herausgeschmuggelt" worden. In Kara Tepe wird die Berichterstattung systematisch behindert. Journalisten dürfen offiziell nicht ins Lager, und NGOs müssen unterschreiben, dass sie nicht über das Lager berichten.
Weil Journalisten nicht ins Lager dürfen, filmt ein Geflüchteter das Elend seiner eigenen Familie. Nachdem er von den Aufsehern erwischt wurde, versiegt auch diese Nachrichtenquelle.
Dann auf Facebook, ein Hilferuf: "Please pray for us. Very very heavy winds." Die Zelte würden zusammenbrechen, und für dieses Wochenende drohen Temperaturen von null Grad. Ich muss an einen Satz von Primo Levi denken: "Ebenso wie unser Hunger nicht mit der Empfindung dessen zu vergleichen ist, der eine Mahlzeit ausgelassen hat, verlangt auch unsere Art zu frieren eigentlich nach einem eigenen Namen."

Die Bilder finden ihren Weg

Es stimme nicht, dass sie im Lager wie Tiere lebten, schrieben die Geflüchteten in ihrem Weihnachtsaufruf mit bitterer Ironie. "Wir haben die Gesetze zum Schutz der Tiere in Europa studiert und wir haben herausgefunden, dass sogar sie mehr Rechte haben als wir." Der Aufruf verhallte, denn die europäische Zivilgesellschaft war zu sehr mit sich selbst und dem durch die Pandemie verdorbenen Weihnachtsfest beschäftigt.
Die Bilder lassen mich nicht mehr los – genau deshalb wollen die Verantwortlichen ihre Entstehung verhindern. Doch es gibt sie und sie finden ihren Weg. Niemand kann sagen, er oder sie habe davon nichts gewusst, doch es ist ein Wissen, das man nicht erträgt: "Ich kann mein Leben gar nicht mehr genießen", heißt es in einem Kommentar auf Twitter.

Unterlassene Hilfeleistung

Knapp 17.000 Menschen, ein Drittel davon Kinder, sind auf den griechischen Inseln nun den Winterstürmen ausgesetzt. Jedes einzelne EU-Land wäre in der Lage, diese Menschen aufzunehmen. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt geht es um jeden Tag, um jede Nacht. Die sofortige Evakuierung scheitert nicht am Geld, sondern am Willen.
200 Kommunen in Deutschland waren bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, doch Innenminister Seehofer lehnt einen deutschen Alleingang ab. In der EU schiebt man sich die Verantwortung hin und her und verspricht ein befestigtes Lager im September 2021.
Man darf diese unterlassene Hilfeleistung durchaus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen. Es ist ein Verbrechen ohne Täter. Und doch nimmt es uns die Unschuld.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen. Geisel ist Gründerin von "tell - Onlinemagazin für Literatur und Zeitgenossenschaft" und schreibt dort regelmäßig.

Sieglinde Geisel posiert im Treppenhaus des RIAS-Gebäude in Berlin
© Deutschlandradio / Melanie Croyé
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