Zusammenprall der Kulturen

Rezensiert von Claudia Kramatschek |
Die in neuer Übersetzung erschienenen "Indische Geschichten" des englischen Autors Rudyard Kipling stammen aus den frühen Jahren des späteren Nobelpreisträgers. Kipling sammelte im Reich des Magischen, des Zauberhaften, des Geheimnisvollen und ist doch hin und hergerissen: hier Faszination für die Eigenheiten Indiens – dort das dünkelhafte Herrendenken des Kolonialabkömmlings.
Als Rudyard Kipling 1865 in Bombay zur Welt kommt, bleiben dem Kind knappe sechs Jahre, um einen ersten Geschmack für das indische Aroma zu entwickeln: der an Sinneseindrücken so reichhaltigen Welt der Gassen und Basare, der Moscheen und Tempel, der Gurus und Straßenverkäufer. Dann wird er ins puritanische England geschickt, um dort im britischen Stil – zum Schluss sogar auf einer Kadettenschule – zu einem weißen Sahib gedrillt zu werden.

Als Kipling 1882 in das damals noch ungeteilte Indien, genauer nach Lahore zu seinen Eltern zurückkehren wird, ist er 17 Jahre alt – und ein ambitionierter junger Mann, der sich rasch anschickt, als Reporter und Journalist enge Tuchfühlung aufzunehmen mit der Welt, die ihn umgibt. Indien, das die Briten zu Kiplings Zeit Kilometer um Kilometer der Eisenbahn und damit ihrem eisernen Regime unterwarfen, muss auch literarisch eine Schatzkammer gewesen sein.

Und Kipling, der sieben Jahre lang als Journalist tätig sein wird, fördert in dieser Zeit tatsächlich literarische Schätze zutage, die seinen Ruhm als Autor bereits 1888 begründen – da erscheinen seine "Schlichten Geschichten aus Indien", so der Titel der deutschen Erstübersetzung von 1895.

Schon in diesen Geschichten – in denen sich die Detailgenauigkeit des Reporters mit der Phantasie eines geborenen Kurzgeschichten-Erzählers paart – deutet sich Kiplings kulturelle Zerrissenheit an, die sich in späteren Jahren immer stärker gegen den ausgewogenen Erzähler in ihm selbst wenden wird: hier Empathie, ja Faszination für die Eigenheiten Indiens und der Inder – dort das dünkelhafte Herrendenken des Kolonialabkömmlings. Diese persönliche Spannung – literarisch zugleich ein Mehrwert – pulsiert auch in den acht Geschichten, die nun in neuer Übersetzung in dem Band "Indische Geschichten" versammelt sind.

Alle Geschichten stammen aus diesen frühen Jahren, allein "Der Brückenbauer" entstand 1898: Da war Kipling noch nicht der erste englische Autor, der einen Nobelpreis erhalten würde, aber schon der Autor des "Dschungelbuchs" und vor allem das entschiedene Sprachrohr des Kolonialismus.

Doch bis es soweit kommt, ist Kipling ein begeisterter Jäger und Sammler im Reich des Magischen, des Zauberhaften, des Geheimnisvollen, aus dem sich das Rätsel Indien dem westlichen Betrachter speist.

Diesem Aspekt seiner Kurzprosa schenkt auch der vorliegende Band Aufmerksamkeit, ob in der "Geisterrikscha", in der eine verlassene Frau den untreuen Liebhaber als Tote heimsuchen wird – ein Meisterstück des phantastischen Grauens –, oder in der wundersamen Geschichte des "Bisara von Pooree", ein Schmuckstück, das denjenigen, der es rechtmäßig erwirbt, innerhalb von drei Jahren ins Verderben stürzen wird. Zugleich aber verdichtet Kipling das Unerklärliche zu Allegorien vom Einbruch des Bösen, von der existentiellen Verletzlichkeit des Menschen. Dies gilt nicht nur für die Cholera, die in einigen der Erzählungen eine Rolle spielt.

Diese Mischung aus Imagination und Realismus macht den Reiz der besten seiner Geschichten aus. Wie keiner seiner damaligen deutschsprachigen Schriftstellerkollegen, die wenig später ebenfalls nach Indien reisen und davon berichten werden, bietet er Lokalkolorit und erhellende Einblicke in die Denk- und Lebensweisen der Einheimischen. Und er bedenkt die Machenschaften und Auswirkungen der Kolonialherrschaft mit einem entlarvenden Seitenblick – auch wenn er in dem später entstandenen Meisterstück "Der Brückenbauer" bereits zur platten Propaganda der britischen Überlegenheit übergegangen ist und dort das Zusammenprallen der Kulturen schildert.

Bei aller heutigen Irritation an manchen Rassismen ist seine Prosa so erfahrungsgesättigt wie kraftvoll und farbenfroh und bei aller Sinnlichkeit zugleich erstaunlich verknappt in seinem gekonnt gerafften, aufs Notwendigste konzentrierten Erzählduktus. Lesenswert sind seine Kurzgeschichten daher noch heute – und zwar nicht nur als Gruß aus dem Bilderalbum der sich wiederholenden Geschichte.

Rudyard Kipling, Indische Geschichten.
Aus dem Englischen übersetzt von Irma Wehrli
Manesse Verlag 2006
256 Seiten 17,90 Euro