Zusammenleben in der Krise

Lasst uns solidarisch sein

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Illustration von klatschenden Händen
Was kommt nach dem Beifall für das Krankenhauspersonal? Die Coronakrise schafft eine ganz neue Solidarität, meint Tillmann Bendikowski. © imago / Panthermedia
Ein Standpunkt von Tillmann Bendikowski · 14.07.2020
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Als einstiger Kampfbegriff der Arbeiterbewegung ist Solidarität am Ende des 20. Jahrhunderts aus der Mode gekommen. Solidarität ist aber ein Grundprinzip des Zusammenlebens, das in Krisenzeiten wiederbelebt werden muss, meint der Historiker Tillmann Bendikowski.
Es ist ein bisschen wie in einer großen Familie: Eines Tages kommt jemand auf die Idee, zum gemeinsamen Essen doch wieder einmal die alte Tante einzuladen. Ihr letzter Besuch liegt lange zurück, weil sie – nun ja – auch ein bisschen wunderlich geworden ist; so erzählt sie ständig von früher und der guten, alten Zeit. Aber kaum sitzt die "Solidarität", denn so heißt die alte Dame, mit am Tisch, will sie niemand mehr gehen lassen. Die Coronakrise macht es möglich, dass wir die Solidarität wiederentdeckt haben!

Solidarität verkam zur ideologischen Folklore

Einst war die Solidarität ein wuchtiger Kampfbegriff der Arbeiterbewegung, als es im 19. Jahrhundert gegen die soziale Ungleichheit ging. Der Begriff beschwor eigene Einheit und Stärke – und transportierte das Versprechen, von den Kampfgefährten auch in der Not nicht im Stich gelassen zu werden. So wurde Solidarität zum Fundament der Gewerkschaftsbewegung, um gemeinsame Forderungen durchzusetzen. Doch am Ende des 20. Jahrhunderts war der Begriff politisch aus der Mode gekommen, auch weil er in der DDR als offizielle Parole im aussichtslosen Kampf der Gesellschaftssysteme gründlich gefleddert worden war.

Und dann hieß nach der deutschen Vereinigung die finanzielle Zusatzabgabe auch noch "Solidaritätszuschlag"! Den Rest gab dem ehrwürdigen Begriff schließlich seine inflationäre Verwendung – zwischen den vielen Bechern "Soli-Kaffee" auf diversen "Soli-Festen" verlor die alte Parole ihre ursprüngliche politische Durchschlagskraft. Solidarität wurde letztlich bunt, fröhlich, preiswert – und bedeutungslos.

Solidarität meint jetzt verantwortliches Handeln

Und jetzt in der Coronakrise also wieder: Solidarität? Ja, gerade jetzt. Aber anders. Nicht mehr als bloße ideologische Folklore, die nichts kostet, und nicht als Parole zur Durchsetzung eigener Gruppeninteressen. Solidarität meint jetzt handeln und zwar im Sinne von Übernahme der politischen Verantwortung für andere. Das heißt in Zeiten von Corona zunächst ganz praktisch: Die Hygienevorschriften beachten, weil sie die anderen schützen.
Wer Masken nur als Angriff auf seine eigene Person werten kann, hat die neue Solidarität noch nicht verstanden. Und wer Kontaktbeschränkungen lächelnd umgeht, verstößt nicht nur gegen geltendes Recht, was erstaunlich viele Menschen nicht sonderlich zu stören scheint, sondern handelt zugleich: unsolidarisch.

Solidarität als probates Mittel gegen Nationalismus

Ja, Solidarität ist anstrengend – und schlimmer: Sie kostet auch noch Geld: Wir geben gerne unsere Steuergelder, um etwa Solo-Selbständige ebenso wie große Firmen zu unterstützen. Und wir investieren finanziell in Europa, auch aus Verantwortung für das friedliche Zusammenleben auf dem Kontinent. Solidarität ist hier ein probates Mittel gegen jedweden Nationalismus. Daran müssen sich aktuell auch die sogenannten "Sparsamen Vier" der EU, Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande, orientieren.
Womöglich erreichen sie noch Veränderungen am geplanten Corona-Hilfspakets für die besonders betroffenen Länder – aber sie können es nicht scheitern lassen, weil dies ein politischer Totalausfall wäre. Verantwortung verlangt die Solidarität aktuell übrigens auch gegenüber unserer parlamentarischen Demokratie: Sie hat sich in schwerster Krise bewährt und politisches Handeln weiterhin möglich gemacht. Vielleicht klingt es altmodisch, aber im Gegenzug ist jetzt Loyalität gegenüber unserem politischen System gefragt, um ihm im Kampf gegen die alten und neuen Feinde der Demokratie beizustehen. Auch das kann kraftraubend werden – aber es geht nicht anders.

Tillmann Bendikowski, geboren 1965, ist Historiker und Journalist. Er leitet die Medienagentur Geschichte in Hamburg und verfasst Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. 2016 veröffentlichte er ein Buch über "Helfen. Warum wir für andere da sind".

© picture alliance/dpa/Jens Kalaene
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