Jean-Luc Raharimanana: "Zurückkehren"

Verwurzelt nur im Blick eines geliebten Menschen

05:47 Minuten
Cover zu Jean-Luc Raharimananas "Zurückkehren".
© Noack & Block

Jean-Luc Raharimanana

Aus dem Französischen von Annette Bühler-Dietrich

Zurückkehren. Ein Roman aus MadagaskarNoack und Block, Berlin 2022

394 Seiten

22,00 Euro

Von Sigrid Brinkmann · 06.09.2022
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Jean-Luc Raharimanana erzählt in "Zurückkehren" autobiografisch basierte Geschichten aus seiner madegassischen Heimat: wie er als Kind glücklich war, obwohl er Zeuge von Gewalt wurde, von den Traumata seiner Familie, von Kolonialismus und Rassismus.
Jemand, der kreativ begabt ist, wird auf Madagassisch „Raharimanana“ genannt. Auf seinen französischen Vornamen Jean-Luc verzichtet der Schriftsteller und Performer Raharimanana üblicherweise. Nie und nimmer aber würde er, der bretonische und madagassische Vorfahren hat, seine binationale Identität verleugnen. Er schreibt in der Sprache der ehemaligen Kolonisatoren, und wenn es ihm gefällt, „malgaschisiert“ er das Französische.

Im französischen Exil

Ende der 1980er-Jahre, nach Konfrontationen mit der Zensurbehörde, verließ Raharimanana das diktatorisch regierte Madagaskar. Er zog nach Frankreich und blieb, wurde Theaterregisseur und Poet, rief das Festival „Plumes d’Afrique“ ins Leben und gründete den Verlag „Project-îles“ für Autor:innen von Inseln des Indischen Ozeans. 2002 kehrte Raharimanana für längere Zeit nach Madagaskar zurück.
Sein Vater, Geschichtsprofessor an der Universität von Antananarivo, war nach einer Radiosendung, in der er über präkoloniale Konflikte auf der Insel sprach, entführt und gefoltert worden. Soldaten verbrannten die Bibliothek und persönliche Dokumente von Vénance Raharimanana. Der Sohn kämpfte um die Rehabilitierung des diffamierten Vaters.

Selbstporträt eines ruhelosen Geistes

Das Buch „Zurückkehren“ besteht aus 14 Heften und zwei abschließenden Kapiteln. Jedes Heft ist mit einem Verb überschrieben: Zur Welt kommen, Sich betrachten, Umherirren, Wachen, Warten, Sich verlieren, Schwanken, Fortgehen … Zurückkehren. Diese auf innere Zustände oder Vorgänge fokussierende Ordnung erlaubt Raharimanana, die Chronologie der Ereignisse aufzubrechen. Er verbindet biografische Splitter, volkstümliche Mythen und Ereignisse der jüngeren madegassischen Geschichte lose miteinander.
So entsteht ein flirrender Text und das Selbstporträt eines ruhelosen Geistes, der sich "an keine Erde gebunden" fühlt und es als seine Bestimmung ansieht, "das Erbe irrender Stimmen" zu empfangen: Stimmen aus Madagaskar, aus Ruanda, aus Europa.

Augen "wie Wunden, die zu viel gesehen haben"

Die Hauptfigur des Buches trägt den Beinamen Hira, „Gesang“. Hira hat Augen „wie Wunden, die zu viel gesehen hatten“, aber er will, „dass Schönheit seine Welt beherrscht, trotz allem“. Schreiben darf für Raharimanana keine Gewalt reproduzieren.

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In einer bildreichen, oft lyrischen Sprache und in oralem Stil - empfindsam übersetzt von Annette Bühler-Dietrich - ruft er Szenen einer unbeschwerten, rebellischen Kindheit sowie Träume und Lebenskrisen des Erwachsenen wach. Die Frage, warum er als Kind glücklich sein konnte, obwohl er doch immer wieder Zeuge abscheulicher Gewalttaten auf offener Straße wurde, lässt Raharimanana nicht los. Es gehört zu den Stärken des Autors, Paradoxe nicht zu glätten.

Resilienz und Liebe bilden ein Paar

Raharimanana zeigt, wie leicht es ist, den Rassismus von Kolonialbeamten zu verurteilen, die madegassischen Eltern ihre „zu weißen Kinder“ wegnahmen und sie in Waisenhäuser sperrten, und wie bereitwillig sich madegassische Ethnien in der postkolonialen Zeit gegeneinander aufhetzen ließen. Die Kolonisatoren hatten Madegassen oftmals dazu gezwungen, politisch missliebige Angehörige zu töten. Nach der Unabhängigkeit wandten Milizen das gleiche Prinzip an. Sie töteten Männer, deren Brüder sich geweigert hatten, armselige, nach 1960 in Madagaskar gebliebene französische Bauern hinzurichten.
"Zurückehren" ist ein Buch der tastenden Suchbewegungen. Ganz langsam nähert sich der Autor dem eigenen Lebenskern. Er findet ihn in der Kindheit seines Vaters, der von seinem Onkel adoptiert, jahrelang misshandelt und um sein Erbe gebracht wurde. Nichts konnte ihn, der später eine große Familie gründete, brechen. Raharimananas fragmentarischer Roman zeugt auf ergreifende Weise davon, dass Resilienz und Liebe ein Paar bilden. Die Liebe, erkennt er, ist sein Zuhause. Im Gesicht eines geliebten Menschen "wurzelt der Blick" eines Mannes, für den es "kein Land mehr gibt".
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