Zurückgeworfen auf die reine Betrachtung

Von Volkhard App |
Die Frankfurter Schirn wagt ein Experiment: In der Ausstellung "Anonym" bleiben sämtliche Künstler wie auch der Kurator unbenannt. So soll verhindert werden, dass der Betrachter sofort das Gesehene kunstgeschichtlich einordnet oder anhand von Namen die Rezeption geleitet wird.
Frühlingshafte Aufbruchstimmung in der Frankfurter Schirn. Drei Kanus hängen von der Decke: Wer seinen Kopf unter diese Boote steckt, sieht hier ein Video mit einem plätschernden Gewässer, hört dort Vögel aus dem Lautsprecher und wird unter dem dritten Kanu von einem Köter angebellt, so klingt es jedenfalls.

Niemand jedoch wird in dieser Schau ernsthaft verschreckt - eher schon neugierig gemacht auf das noch Unbekannte und so schwer Benennbare. Die denkbar unterschiedlichen Bilder und Installationen werden in einem dunklen Ganglabyrinth präsentiert und in der Rotunde, wo neben den Kanus unscheinbare Fotos die Blicke anziehen; festgehalten ist hier grünes Gewächs in Betonkübeln und an Straßenrändern, an unwirklichen urbanen Orten.

Zu den düsteren Installationen zählt ein Sonnenstudio namens "Sunflower" mit drei Türen: eine ist einen Spaltbreit offen, zwei bleiben verschlossen. Wir stehen hinter einer Scheibe und schauen auf diese unheimlich ausgeleuchtete Szenerie, in der etwas Furchtbares geschehen könnte. Auch eine aus bizarren und bunten geometrischen Formen zusammengesetzte Skulptur, aus der es zudem noch tropft, gibt Rätsel auf - und was hat in dieser Schau ein Holzmodell der Schirn zu suchen?

Immer wieder kommt der Moment, da hätte man gern ein paar Informationen und möchte den dazugehörigen Künstlernamen erfahren, aber ein Schild sucht man vergeblich. Der Besucher bleibt auf sich alleine gestellt, eine völlig ungewohnte Situation. Auch der Kurator ist anonym, und die hausbekannten Persönlichkeiten hüllen sich derart in Schweigen, dass im Vergleich selbst Rumpelstilzchen in dem einschlägig bekannten Märchen als auskunftsfreudig gelten darf. Max Hollein, Direktor der Schirn:

"Ich denke, dieses Projekt kommt zu einem Zeitpunkt, wo wir eine Kunstszene und einen Kunstmarkt erleben, der unheimlich fixiert ist weniger auf das Werk selbst als auf den Namen des Künstlers und so einen Schleier über die Rezeption legt. Und da versucht diese Ausstellung spielerisch eine Alternative aufzuzeigen."

Eine individuelle Erfahrung mit Kunst soll hier wieder möglich sein, sie soll verstörend wirken, ohne vom Betrachter gleich in einem Raster von Namen und stilistischen Begriffen entsorgt zu werden. Es fehlt im Katalog denn auch nicht an großen, manifestähnlichen Worten: Vom Widerstand gegen die Mechanismen des Marktes mit seinen Namen, Marken und eingefahrenen Begriffen ist da die Rede, ja von Aufstand und Revolution. Und bei diesem Frankfurter Probelauf soll es auch nicht bleiben, sogar von einer "Anonymen Bewegung" wird da geraunt. Geht es nicht eine Nummer kleiner?

Hollein: "Ich glaube, man darf das nicht so ernst nehmen im Sinne einer Revolution. Ich denke, diese Ausstellung schlägt eine Sichtweise vor, die man sich aneignen kann. Wir haben keine Illusionen, dass sich daraus eine ganz neue Rezeption von Kunstwerken ergibt. Aber ich glaube, es ist eine Ausstellung und auch eine Idee zum richtigen Zeitpunkt."

Eine solche Schau verunsichert nur, wenn die eingeladenen renommierten Künstlerinnen und Künstler nicht sofort an ihrem Stil, ihrer Marke zu identifizieren sind. Früher, bei Robert Lembkes "Heiterem Berufe raten", wurde der Gast manchmal aufgefordert, bei seiner Handbewegung nicht zu verräterisch zu sein. Bei diesem Frankfurter "Wer bin ich?"-Spiel darf wiederum das jeweilige Werk eines Fotografen, Malers oder Bildhauers nicht zu charakteristisch ausfallen. Da drängen sich Fragen nach dem Entstehungsprozess einer solchen Ausstellung auf, nach der Auswahl der Künstler und den Vereinbarungen:

"Die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler hat der anonyme Kurator getroffen und mit ihnen das Konzept der Ausstellung und die thematische Einordnung besprochen. Und dafür haben die Künstler dann Werke geschaffen. Es war nicht vorgegeben, dass sie sich partout nicht ihrem normalen Stil annähern sollten."

Nun sind Namen und Begriffe ja nicht bloß ein Mittel zur profitablen Positionierung von Künstlern und Stilen am Markt, sondern dienen auch der persönlichen Orientierung: Die Erfahrungen, die der einzelne Betrachter mit den Werken eines bestimmten Künstlers gesammelt hat, sind in diesem Namen gebündelt, können mit ihm abgerufen, überprüft und aktualisiert werden. Es geht nicht ganz ohne Namen und Begriffe:

"Ich glaube schon, dass es ohne Namen und Begriffe gehen kann. Wenn Sie die nicht haben, konzentrieren Sie sich auf die Werke selbst - das heißt, Sie ordnen nicht ein: Ist das nun ein Spätwerk des Künstlers, hat er sich grundlegend erneuert oder führt er ältere Ideen fort? Auf der anderen Seite tragen Sie natürlich die gesamte Information der Kunstgeschichte in sich. Sie sehen diese Werke ja nicht vor einer neutralen, leeren Folie. Die leichte Einordnung aber ist Ihnen nicht mehr möglich, wo Sie erst einmal auf das Label schauen und sagen: ist ja interessant, was er jetzt macht oder: schon wieder das Gleiche. Diese Momente werden Ihnen genommen. Im Grunde ist das Ganze wie eine Wunderkammer."

Anregend ist ein solcher Rundgang allemal, das eigene begriffliche Arsenal wird spürbar entschlackt - man fühlt sich leichter. Hier muss man ganz stark sein, sollte sich öffnen und das Informationsdefizit geradezu genießen, wenigstens dieses eine Mal. Hollein spricht von einer kollektiven Übung auf Seiten des Publikums und der Künstler und von einem alternativen Ausstellungsmodell - wichtig gerade für die Schirn, die in ihrem Programm ja auf große Namen setzt: Gleich nebenan wird Picasso gezeigt.

"Anonym" ist nach der Ausstellung "Nichts" schon das zweite originelle Glanzlicht innerhalb von ein paar Monaten - wobei nicht wenige Besucher, die es gewohnt sind, an den Werken vorbei von Schild zu Schild zu eilen, die Schau "Anonym" als eine Spielart von "Nichts" empfinden könnten.

Für viele andere wird sie eine Frischzellenkur sein. Denkbar, dass dieser Frankfurter Versuch Schule macht: damit in der Kunst und im Kunstbetrieb wieder Freiraum für das Denken geschaffen wird. Auch wenn es bis zur vollmundig postulierten "Revolution" noch ein wenig dauert.

Service:
Die Ausstellung "Anonym" ist vom 31. Oktober 2006 bis 14. Januar 2007 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen.