Zurück zum dörflichen Idyll
32 Prosaminiaturen versammelt dieser schmale Band. Was diese kurzen Texte vereint, ist die Suche nach Transzendenz: Aus der Betrachtung von Alltagsgeschehnissen oder banalen Objekten destilliert Solschenizyn Gedanken, die als Füllmaterial für die spirituelle Lücke im Leben taugen sollen. Oft paaren sich Religiosität und die Sorge um die Heimat und bringen einen überaus pathetischen Ton hervor.
"Was geschieht mit der Seele während der Nacht?" - man könnte meinen, eine derart aufgeworfene Frage könne nur eine religionsphilosophische Abhandlung nach sich ziehen. Oder immerhin eine poetische. Diese Erwartung freilich stellt sich nur beim deutschsprachigen Leser ein. Das russische Original erschien unter dem bescheidenen, dabei zutreffenderen Titel Krochotki, also etwa: Krümelchen, Winzigkeiten.
32 Prosaminiaturen versammelt dieser schmale Band, und sie stammen aus zwei verschiedenen Epochen: Der erste Teil entstand zwischen 1958 und 1963, in einer Zeit also, als Solschenizyn Lagerhaft, Verbannung und Rehabilitierung hinter sich hatte und sich anschickte, Schriftsteller zu werden. Der zweite Teil wurde in den Jahren nach Solschenizyns Rückkehr aus seinem 20-jährigen Exil nach Russland verfasst, zwischen 1996 und 1999.
Was diese kurzen Texte vereint, ist die Suche nach Transzendenz: aus der Betrachtung von Alltagsgeschehnissen oder banalen Objekten destilliert Solsche-nizyn Gedanken, die als Füllmaterial für die spirituelle Lücke im Leben taugen sollen. Ist nicht ein Ulmenbalken auch ein Symbol für Lebenswillen? Zeigt nicht ein Entenküken, dass dem Menschen Grenzen gesetzt sind in seiner Fähigkeit, die Natur zu überwinden oder nachzubauen? Ist nicht das abendliche Läuten der Kirchenglocke eine Verbindung zur Ewigkeit? Ist nicht der Gewitterblitz, wenn er einen Baum spaltet, auch eine Metapher für den "strafenden Schlag des Gewissens", der unredlichen Taten nachfolgt? Wohin entschwinden die Toten, werden wir ihnen womöglich wieder begegnen?
Mehrere dieser Miniaturen finden die Antwort auf solche Fragen in der Religiosität, die ihr Autor immer wieder als Reflexionsweg anbietet. Nicht zufällig en-det jeder der beiden Zyklen mit einem Gebet: einmal eher in eigener Sache, einmal zum Wohle Russlands. Das Wohl Russlands ist denn auch eine der grundlegenden Besorgnisse, die die Texte durchziehen.
Oft paaren sich Religiosität und die Sorge um die Heimat und bringen einen überaus pathetischen Ton hervor: "Nein, unser Herr wird es nicht zulassen, dass ganz Russland ertränkt wird ...", lautet der Stoßseufzer angesichts einer alten russischen Stadt an der Wolga, die aus kultureller Nachlässigkeit bezie-hungsweise Ignoranz geflutet wurde und von der als letztes Zeugnis die Kirch-turmspitze aus dem Wasser ragt.
Das Unbequeme an Solschenizyn tritt auch in diesen Miniaturen zu Tage: Unerbittlicher Kritiker des sowjetischen Systems, steht er auch dem entfesselten Kapitalismus der 90er Jahre mit überaus kritischen Kommentaren zur Seite. "Was ist das für ein quälendes Gefühl – sich für sein Heimatland schämen zu müssen!", ruft er im ihm eigenen dramatischen Ton aus und beschwört die Gefahr, dass auch ganze "irdische Völker" verschwinden können, wenn sie sich dem Verfall und dem Niedergang überlassen. Sein analytischer Blick auf die Symptome des Verfalls während der Jelzin-Jahre ist dabei durchaus überzeugend, wenn auch apokalyptisch überzeichnet. Seine Rezepte für die "überhaste-ten und trüben Seelen" der Gegenwart allerdings bleiben unbefriedigend, weil sie einen rückwärtsgewandten Nostalgiker verraten, der eine (längst) untergegangene Epoche auferstehen lassen möchte: ein dörfliches Idyll, in dem die "Tiefe des Volkslebens atmet".
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Alexander Solschenizyn: Was geschieht mit der Seele während der Nacht? Erzählungen
Aus dem Russischen von Fedor B. Poljakov.
Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2006, 102 Seiten, 14,90 Euro
32 Prosaminiaturen versammelt dieser schmale Band, und sie stammen aus zwei verschiedenen Epochen: Der erste Teil entstand zwischen 1958 und 1963, in einer Zeit also, als Solschenizyn Lagerhaft, Verbannung und Rehabilitierung hinter sich hatte und sich anschickte, Schriftsteller zu werden. Der zweite Teil wurde in den Jahren nach Solschenizyns Rückkehr aus seinem 20-jährigen Exil nach Russland verfasst, zwischen 1996 und 1999.
Was diese kurzen Texte vereint, ist die Suche nach Transzendenz: aus der Betrachtung von Alltagsgeschehnissen oder banalen Objekten destilliert Solsche-nizyn Gedanken, die als Füllmaterial für die spirituelle Lücke im Leben taugen sollen. Ist nicht ein Ulmenbalken auch ein Symbol für Lebenswillen? Zeigt nicht ein Entenküken, dass dem Menschen Grenzen gesetzt sind in seiner Fähigkeit, die Natur zu überwinden oder nachzubauen? Ist nicht das abendliche Läuten der Kirchenglocke eine Verbindung zur Ewigkeit? Ist nicht der Gewitterblitz, wenn er einen Baum spaltet, auch eine Metapher für den "strafenden Schlag des Gewissens", der unredlichen Taten nachfolgt? Wohin entschwinden die Toten, werden wir ihnen womöglich wieder begegnen?
Mehrere dieser Miniaturen finden die Antwort auf solche Fragen in der Religiosität, die ihr Autor immer wieder als Reflexionsweg anbietet. Nicht zufällig en-det jeder der beiden Zyklen mit einem Gebet: einmal eher in eigener Sache, einmal zum Wohle Russlands. Das Wohl Russlands ist denn auch eine der grundlegenden Besorgnisse, die die Texte durchziehen.
Oft paaren sich Religiosität und die Sorge um die Heimat und bringen einen überaus pathetischen Ton hervor: "Nein, unser Herr wird es nicht zulassen, dass ganz Russland ertränkt wird ...", lautet der Stoßseufzer angesichts einer alten russischen Stadt an der Wolga, die aus kultureller Nachlässigkeit bezie-hungsweise Ignoranz geflutet wurde und von der als letztes Zeugnis die Kirch-turmspitze aus dem Wasser ragt.
Das Unbequeme an Solschenizyn tritt auch in diesen Miniaturen zu Tage: Unerbittlicher Kritiker des sowjetischen Systems, steht er auch dem entfesselten Kapitalismus der 90er Jahre mit überaus kritischen Kommentaren zur Seite. "Was ist das für ein quälendes Gefühl – sich für sein Heimatland schämen zu müssen!", ruft er im ihm eigenen dramatischen Ton aus und beschwört die Gefahr, dass auch ganze "irdische Völker" verschwinden können, wenn sie sich dem Verfall und dem Niedergang überlassen. Sein analytischer Blick auf die Symptome des Verfalls während der Jelzin-Jahre ist dabei durchaus überzeugend, wenn auch apokalyptisch überzeichnet. Seine Rezepte für die "überhaste-ten und trüben Seelen" der Gegenwart allerdings bleiben unbefriedigend, weil sie einen rückwärtsgewandten Nostalgiker verraten, der eine (längst) untergegangene Epoche auferstehen lassen möchte: ein dörfliches Idyll, in dem die "Tiefe des Volkslebens atmet".
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Alexander Solschenizyn: Was geschieht mit der Seele während der Nacht? Erzählungen
Aus dem Russischen von Fedor B. Poljakov.
Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2006, 102 Seiten, 14,90 Euro