Zurück zum Alltag

Von Astrid Freyeisen |
Am 12. Mai 2008 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,0 die Provinz Sichuan und weite Teile von Westchina. Mindestens 90 000 Menschen kamen um oder werden vermisst – so die offizielle Lesart. Dies bedeutet, dass unzählige Opfer nie gefunden wurden, weil sie unter herabgestürzten Berghängen und den Trümmern ihrer Häuser begraben liegen. Die Menschen in Sichuan leiden nach wie vor unter der Katastrophe, obwohl die unmittelbare Reaktion der Regierung auf das Beben schnell war und der Wiederaufbau voranschreitet. Kritisiert wird vor allem die Korruption unter lokalen Kadern, die einen noch schnelleren Wiederaufbau verzögern.
Lu Tao verlor elf Familienmitglieder im Erdbeben von Sichuan. Seine verletzte Frau konnte er retten, er schleppte sie einen Berghang hoch, weg aus dem Inferno ihrer Heimatstadt Beichuan. Um die Flüchtenden herum klappten Häuser zusammen, zermalmten tonnenschwere Felsbrocken Autos. Zwei Jahre ist das nun her und Lu Tao zieht es immer wieder zurück an den Ort der Tragödie:

"Letzten Sommer ließ ich mich einmal nachts hinfahren. Ich sagte dem Fahrer, dass ich das allein nicht ertragen würde. Ich hatte plötzlich das Gefühl, die Toten auf den Straßen liegen zu sehen. Exakt so, wie ich sie am Tag des Bebens gesehen hatte. Das Erdbeben hat die Lebenseinstellung von uns Leuten aus Beichuan sehr verändert. Früher haben wir hart gearbeitet und streng gespart: Alles für unsere Eltern und Kinder. Das Erdbeben hat uns gezeigt, wie zerbrechlich das menschliche Leben ist. Alles kann dir einfach so genommen werden. Heute achten viele von uns darauf, jeden einzelnen Tag zu genießen. Ich etwa gebe mehr Geld aus als vor dem Beben."

Lu Tao verlor im Erdbeben seine kleine Firma, aber ihm blieb immerhin noch so viel, dass er mit Frau und Sohn in einer Mietwohnung unterkam – über vier Millionen anderen blieben nur Zelte oder Containerhäuser. Lu Tao zählt nun die Tage, bis sein wirkliches Leben nach der Katastrophe beginnen kann. Er zeigt uns, wo: In Xin Beichuan, dem neuen Beichuan, etwa eine Autostunde vom alten Ort entfernt, in einer Ebene statt in den Bergen – weniger erdbebengefährdet.

Eine Staubwolke kündigt die riesige Baustelle der neuen Stadt an, einen Wald voller Kräne. Gerade feiern Arbeiter mit einem Feuerwerk den fertigen Rohbau eines der Wohnblöcke. Mit Lu Tao klettern wir für eine bessere Sicht aufs Dach eines der Häuser aus Beton. Schon werden die ersten Elektroanschlüsse in den Wohnungen gelegt:

"Dieser Ort ist großartig, die Häuser gefallen mir sehr gut. Ich freue mich darauf, hier einzuziehen. Ich hoffe, dass das vor dem nächsten chinesischen Neujahrsfest sein wird. Hier zu leben ist wohl sogar besser als in Chengdu oder Peking. Unsere Gegend hat Berge und Flüsse, alles ist so grün – einfach schön. Ich höre, sie legen in der neuen Stadt einige große Parks an. Und einen Platz für Aufführungen, mit Türmen im traditionellen Baustil der Qiang-Minderheit. Mein Sohn erzählt, dass es in der neuen Mittelschule von Beichuan Dutzende Basketballplätze geben soll."

Der Sohn von Lu Tao ist 15, er heiß Lu Wenlong und lebt unter der Woche im Wohnheim seiner Schule – für die meisten Schüler in China ist das Alltag. Doch die Mittelschule von Beichuan ist anders: Das Erdbeben verwandelte sie in einen einzigen Schuttberg. Wie viele Schüler und Lehrer umkamen, ist unklar. Betroffene Eltern schätzen, es könnten über 1000 gewesen sein. Lu Wenlong sah viele sterben.

"In der Klasse reden wir noch manchmal über das Erdbeben."

Viel will Lu Wenlong nicht sagen. Langsam schüttelt der Junge die schlimmen Erlebnisse ab, monatelang wurde er mit seinen Klassenkameraden von Psychologen betreut. Seelische Hilfe nötig hätte auch dieser Vater, der anonym bleiben will. Sein Sohn starb in der Mittelschule von Juyuan:

"14 Uhr 28 war die Zeit des Erdbebens. Ich war um 14 Uhr 50 an der Schule. Ich fand meinen Sohn in den Trümmern, blieb an seiner Seite bis 17 Uhr 50. Da hörte er auf zu atmen. Es war eine so grausame Erfahrung. Niemand versteht unseren Schmerz. Niemand hört uns zu."

Das Schicksal dieses Vaters teilen hunderte von Eltern allein in der Mittelschule von Juyuan. Viele Opfer-Eltern fragen, wieso tausende Schulen einstürzten, während andere große Gebäude in der Nähe stehen blieben. Sie sind überzeugt: Korruption, Pfusch am Bau sei schuld:

"Die lokalen Behörden behandeln uns Opfer-Eltern mit nichts anderem als Grausamkeit. Sie haben mich mehr als zehnmal eingesperrt. Am Nationalfeiertag wollten wir unserer Kinder gedenken. Sie wollten uns festnehmen, nannten uns Konterrevolutionäre. Sie schlugen mich. Ich werde mit jedem Tag schwächer. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Letztes Jahr wollten sie, dass ich am Jahrestag des Erdbebens verreise. Ich lehnte ab. Also schickten sie Leute, die meine Wohnung verwüsteten. Sie hörten erst auf, als ich drohte, mich umzubringen. Schließlich musste ich doch nachgeben und verreisen. Ich vermute, dieses Jahr werden sie das wieder machen."

Mit anderen Opfer-Eltern war der Vater schon mehrfach in Peking, um Petitionen an die Zentralregierung zu richten - ohne Erfolg. Er sagt, Polizisten der Provinzregierung von Sichuan hätten die Gruppe sofort nach Ankunft in der Hauptstadt festgenommen. Den Neubau der Mittelschule von Juyuan hat der Vater nicht gesehen – nicht sehen dürfen, wie er sagt.

Von Aufklärung oder gar Schuld wird nicht gesprochen im offiziellen Sichuan. Aber indirekt gehen die Behörden auf die Katastrophe dennoch ein. Schulen haben beim Wiederaufbau Priorität. Wohin man fährt im Erdbebengebiet: Als erstes fallen die vielen neuen Schulhäuser auf. Auch in Dujiangyan, jener Stadt, zu der die Mittelschule von Juyuan gehört. Für 60 Schulen in Dujiangyan wurden umgerechnet 200 Millionen Euro ausgegeben. Das Geld stammt aus Spendenaktionen und von den Städten Shanghai und Chengdu. Li Xiaoming, der Chef der Schulbehörde von Dujiangyan, erklärt:

"Falls es ein weiteres Erdbeben gibt, könnten die neuen Schulgebäude zwar beschädigt werden, aber sie würden nicht einstürzen. Das Leben der Kinder ist garantiert. Wir haben die Konstruktionen der weniger beschädigten Schulen verstärkt. Alle anderen haben wir abgerissen und neu errichtet. Schulen sind weitläufiger ausgelegt als normale Häuser und stürzen deshalb leichter ein. Früher: Das waren Standardkonstruktionen, vorgefertigte Bauteile. Aber wer hätte schon mit einem solch starken Erdbeben gerechnet. Die Lektion für uns ist, dass wir mit allem rechnen müssen."

Der Behördenchef zeigt die helle, saubere Schule. Breite Treppen führen in die oberen Stockwerke.

"In unseren neuen Schulgebäuden führen Notausgänge in alle Richtungen. Jedes Klassenzimmer hat einen eigenen Fluchtweg. So sollten Unfälle auf den Treppen oder am Ausgang vermieden werden. Wir gehen von internationalen Erfahrungswerten aus. In Notfällen kann der Außenbereich unserer Schule auch als Evakuierungszentrum für die ganze Stadt benutzt werden."

Die Innenstadt von Dujiangyan war im Erdbeben zu 80 Prozent zerstört. Heute ist das kaum noch vorstellbar: An der Autobahnausfahrt steht ein brandneues Sportstadion. Beim Erdbeben war die Baustelle dafür die Einsatzzentrale der Rettungskräfte: Eine Schlammwüste, in der Soldaten Zelte, Nahrung und andere Hilfsgüter sammelten, bevor sie an die Obdachlosen verteilt wurden.

Die Dörfer rund um Dujiangyan befinden sich auf einem Standard, den man selten antrifft in China. Etwa Wugui. Wir sind bei den Dorfbewohnern nicht angemeldet. Sie zeigen uns ihre neuen, dreistöckigen Häuser dennoch gerne. Frau Liu überraschen wir beim Kochen am neuen Herd:

"Eine zeitlang lebten wir in einem Behelfshaus. Dann entschloss sich die Regierung, unser Dorf neu zu errichten."

Im ersten Stock sitzt Ma Jun am Computer, der Sohn von Frau Liu. Der Fernseher läuft – ein großer, neuer Flachbildschirm. Prunkstück des Wohnzimmers ist eine Polstergarnitur. Daneben die rote Nationalfahne. Ma Jun lobt die kommunistische Partei, deren Mitglied er ist. Er ist gerade für ein paar Tage nach Wugui zurückgekehrt, denn er ist als Handlungsreisender meist auswärts unterwegs. Auf sein neues Heim ist Ma Jun sehr stolz:

"Es ist über 200 Quadratmeter groß. Bad und Toilette sind sehr modern. Vor dem Erdbeben wohnten wir nicht so komfortabel. Jetzt haben wir auch Kabelfernsehen, Telefon und alle möglichen Läden. Zu fünft hat unsere Familie umgerechnet 10.000 Euro von der Regierung bekommen. Aus eigener Tasche haben wir weitere 7000 aufgebracht, um dieses Haus zu bauen."

Wir fahren weiter Richtung Berge. Wir wollen wissen, wie es dort aussieht, wo vermutlich weniger Politiker den Wiederaufbau besichtigen. Yinghua ist so eine Kleinstadt. Am Ortsrand – wieder eine neue Schule. An der Durchgangsstraße in die Berge stehen am Hang Hütten aus Holz und Plastikplanen. In einer solchen selbst gebauten Hütte lebt Wang Gaoju mit ihren beiden Töchtern:

"Nach dem Erdbeben wohnten wir ein halbes Jahr in einem Behelfshaus. Dann aber wurde das Land gebraucht, um neue Wohnblöcke zu errichten. Sie mussten unsere Behelfshäuser abreißen. Aber die Regierung sagt, dass wir im September in die neuen Wohnblöcke umziehen können. Wer über 50 ist, wird vom Staat unterstützt. Wer jünger ist, muss selbst Arbeit finden. Jetzt verdiene ich im Monat umgerechnet knapp 100 Euro. Zum Überleben reichts gerade so. Aber die neuen Häuser werden sehr schön. Eine echte Verbesserung zu früher. Ich freue mich jeden Tag auf den Umzug."

Frau Wang sieht von ihrer Hütte aus die Wohnblöcke wachsen. Das gibt Zuversicht. Ein paar Kilometer weiter wird die Straße schlechter. Wenig später in der Kleinstadt Hongbai ist der geteerte Teil der Straße zu Ende. Vor Hongbai fallen neue Dörfer auf. So neu, daß sie noch nicht einmal Namen tragen. Auch hier sind die Häuser geräumig, Stromanschlüsse und Badezimmer zeigen, daß sie modern ausgestattet sein werden. Meine Familie hat Geld von der Regierung und von Verwandten geliehen, erklärt ein Bauherr:

"Wir haben vor einem Jahr begonnen zu bauen. Behelfshäuser gab es hier nicht viele. Wir lebten nach dem Beben in einer Hütte aus Resten unserer zerstörten Häuser. Jetzt haben wir keine Felder mehr, weil auf ihnen neue Häuser gebaut wurden. Wir machen uns Sorgen, von was wir in Zukunft leben sollen. Alles hängt von der lokalen Regierung ab. Wir haben da gar nichts zu sagen. Unsere Behörden arbeiten alles andere als transparent. Es gibt keine öffentlichen Diskussionen. Man muss machen, was sie sagen. Sie glauben einfach nicht, dass sie uns informieren müssen."

Der Mann ist schon in sein Haus eingezogen, obwohl dieses noch gar nicht fertig ist. An der Außenmauer steht ein Zelt, in dem die Bauarbeiter hausen. Sie stammen aus Mianzhu, einem weiteren Ort, den das Erdbeben verwüstet hat:

"Wir haben alles verloren. Schon vor dem Beben waren wir Bauarbeiter, aber weit weg in anderen Provinzen. Wir mussten natürlich erstmal unsere eigenen Häuser wieder aufbauen. Deshalb sind wir noch nicht wieder losgezogen. Es ist hier oft schwer, voranzukommen. Wo es noch keine Straßen gibt, müssen wir das Baumaterial mit den bloßen Händen tragen. Das dauert natürlich. Vor dem Erdbeben haben wir große Platten und Steine zum Hausbau verwendet. Heute nehmen wir Ziegel. Früher hatten die Häuser auch keine tragenden Teile aus Beton. Sie waren aus Lehm und Kalk. Die Häuser heute sind viel besser gebaut. Sie würden einem Erdbeben von Stärke acht standhalten."

Die Bauarbeiter sehen ihre Situation wie offenbar viele der Menschen im Erdbebengebiet von Sichuan: Geprägt von Leidensfähigkeit, Ausdauer und Fleiß, voller Hoffnung, aber auch Frust über die Obrigkeit.

"Immer sind da diese korrupten Offiziellen. Sogar wenn wir alles verlieren, stehlen sie immer noch unser Geld. Und es gibt viele von denen. Sie klauen die finanziellen Hilfen, die die Zentralregierung uns schickt. Sobald Geld von oben ankommt, geht die Korruption los: Die Stadt klaut was, der Landkreis, das Dorf."

Die Bauarbeiter sind besonders wütend auf die korrupten Beamten, weil sie als kleine Bürger durch das Erdbeben auf Jahre hin unter Druck stehen:

"Wir alle mussten Kredite aufnehmen, um unsere Häuser wieder aufbauen zu können. Jede Familie steht mit umgerechnet mindestens 1000 Euro in der Kreide. Wir haben unsere Schulden noch nicht zurückzahlen können."

Zurück in die neue Stadt Beichuan, wo Lu Tao über die riesige Baustelle blickt. Er teilt die Kritik vieler Erdbebenopfer an der Obrigkeit. Vor allem aber ihre Zähigkeit, ein neues Leben aufzubauen. Zwei Jahre nach dem Beben ist es ihm gelungen, erneut Pflanzen für traditionelle Medizin zu verkaufen – wie früher. Lu Tao hat sogar Geschäftspartner in Italien, ständig klingelt sein Mobiltelefon. Aber er hat langfristig andere Pläne: Mit zwei Freunden will er umgerechnet 200.000 Euro aufbringen und ein Restaurant eröffnen.

"Ich plane ein Restaurant von 1000 Quadratmetern. Unsere Tradition ist, am Umzugstag ein großes Bankett zu veranstalten. Wenn nur ein Drittel unserer 1000 Familien im neuen Beichuan kommt, hätte ich schon ein gutes Geschäft. Und dann rechne ich auch mit Touristen. Vor dem Erdbeben hat niemand Beichuan gekannt. Aber heute kennen es viele. Sie wissen auch, dass hier für viel Geld eine neue Stadt entsteht. Die werden sie sehen wollen. Ich bin optimistisch, wenn ich an meine Zukunft denke."

Lu Tao sagt: Ich hatte viele Angebote, woanders mein Glück zu machen. Aber hier ist meine Heimat, hier in Sichuan möchte ich weiterleben.