Zurück in die Zukunft

Von Johannes Halder |
Die figurative Malerei wurde schon des öfteren totgesagt, doch seit einigen Jahren erlebt sie auf internationalen Messen und Kunstmärkten einen bemerkenswerten Boom. Unter dem Titel "Zurück zur Figur – Malerei der Gegenwart" widmet jetzt die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München dem Phänomen eine große Schau mit 120 Gemälden von 80 Künstlern, die alle seit dem Jahr 2000 entstanden sind, obwohl auch Altmeister wie Lucian Freud, Eric Fischl oder Alex Katz mit von der Partie sind.
Das Bild ist ein Schocker, und wegsehen geht nicht. Wandfüllend, über drei Meter hoch, schieben sich auf einem Gemälde der englischen Malerin Jenny Saville die gespreizten Schenkel einer nackten Person dem Betrachter entgegen: die Genitalien sind männlich, die weiblichen Brüste künstlich, silikongespritzt. Der Blick wandert über den Unterleib, zwischen den Geschlechtern den Bauch hinauf ins Gesicht, in das der Ekel über die eigene, zerrissene Existenz geschrieben steht.

So verstörend und bizarr der Anblick, so großartig ist das Bild gemalt; es ist im Grunde ja nichts anderes als die gute alte Aktmalerei mit modernen Mitteln, und Figuren, Körper und Fleisch, Gestalten und Gesichter gibt es mehr als genug in dieser aufregenden Schau. Manches geht an die Nerven, manches unter die Haut.

Frank Schäpel, ein Baselitz-Schüler, hat in altmeisterlicher Manier und nach dem Vorbild des toten Christus von Hans Holbein den lebensgroßen Körper einer nackten Frau gemalt, hingestreckt wie eine Leiche auf dem Seziertisch der Pathologie: "Todora Kujovic, serbisch, 27 Jahre", sagt der Titel. Schwer zu sagen, ob die Frau tot ist oder lebt. Die Figur jedenfalls war als Thema der Malerei niemals tot, auch wenn es immer mal wieder danach aussah, sagt Kuratorin Christiane Lange:

"Die Figur ist der Malerei natürlich nie abhanden gekommen, sondern die Wahrnehmung der Figur ist vielleicht im Bewusstsein zumindest des Kunstmarkts abhanden gekommen. Und so ist die Figuration natürlich ein ganz kontinuierlicher Strang in der Moderne, in der bildenden Kunst immer gewesen. Aber die Wahrnehmung ist natürlich eine völlig andere."


Es ist derzeit vor allem der völlig durchgedrehte Kunstmarkt, der den Trend zur figurbetonten Malerei erzeugt, und die Schau sammelt sie alle ein: Die Vertreter der Leipziger Schule um Neo Rauch, englische Malerstars wie Stephen Conroy und Glen Brown, Marlene Dumas aus Amsterdam, dazu die kunstvoll verkitschten Porträt des Amerikaners John Currin – alles frische Ware, kein Bild ist älter als fünf, sechs Jahre. Dabei ist die älteste Teilnehmerin, Maria Lassnig, 87, und Lucian Freud, der englische Altmeister, der ein wunderbares Porträt beigesteuert hat, 84. Das soll auch heißen, dass die Generation der Greise Vorbild ist, dass der neue Hang zur Figuration nicht plötzlich vom Himmel gefallen ist.

"Die Figuration hat ihre Wurzeln, und Bilder kommen aus Bildern. Und die jetzt figurativ malenden ganz jungen Maler, die haben nicht irgendwo neu angefangen oder die Figuration entdeckt, sondern die bauen auf der Entwicklung der Figuration im 20. Jahrhundert auf."

Selbst einer wie Konrad Klapheck, der seine Motivwelt bisher den Maschinen widmete, hat im Alter die Figur entdeckt, auch wenn seine Nachtklubsängerin steif wie eine Marionette am Mikrophon agiert und die Erotik einer Schreibmaschine ausstrahlt.

120 Bilder von 80 Künstlern sind zu sehen. Im Katalog sind sie alphabetisch registriert, in der Schau hat man sie, wenig stringent, thematisch sortiert: Sachlich-magisch-surreal, Porträt, Körper und Psyche oder Pop-Crossover-Subkultur, also die so genannte "low culture" der Werbe- und Medienwelt, wo die Figur oft ironisch gebrochen zur Darstellung gelangt.

"Heutzutage ist natürlich die ’low culture’ das Internet, die Computerspiele, die Sprayerszene. Das hat sich gewandelt, und das wird jetzt genauso aufgegriffen und in die hohe Kultur der museumswürdigen Malerei übertragen."

"Welten-Gegenwelten" oder "Alltag-Gesellschaft-Politik" heißen die anderen Sektionen, wobei es im letzteren Fall durchaus auch um die Gesellschaft der Regenbogenpresse gehen darf. Der Amerikaner Terry Rogers ist so einer, der – ähnlich wie im "Großstadt-Triptychon" von Otto Dix – auf einer hyperrealistisch gemalten Riesenleinwand die Sex- und Drogenorgie einer haltlos enthemmten High Society mit dem Pinsel protokolliert:

""Da taucht dann irgendwo Paris Hilton auf, alle sind sie irgendwie bis ins letzte Schamhaar genau wie in einem Wimmelbild dargestellt; andere Künstler wie der Ungar Ákos Birkás nehmen wirklich bewusst so die Nachrichtenwirklichkeit, die Politik der explodierenden Tanks in Bagdad oder Bilder aus Abu Ghreib zum Anlass, sich auch wieder zu vergegenwärtigen: Wo stehen wir denn da vor diesen Bildern?"

Tatsächlich stehen wir ebenso ratlos wie fasziniert in dieser Schau, zwischen all den poppig aufgebrezelten Akten und magisch verrätselten Alltagsgestalten. Tabubruch, klar, gehört hier oft zum guten Ton, aber er wird stets aufgefangen von einer erstklassigen Malerei, die der Figur bedarf, um sich an sich selbst zu messen. Man ist versucht, das Phänomen historisch zurückzuführen auf eine Parallele in den zwanziger Jahren, als in ähnlich labiler Gesellschaftslage die Figur den Malern als eine Art Rückversicherung diente.

Also zurück in die Zukunft der Malerei? Wer weiß. Vielleicht ist das Ganze auch nicht mehr als eine Mode, eine momentane Laune des Kunstmarkts. Das wird man erst im Rückblick wissen. In einem jedenfalls ist diese Ausstellung ganz zeitlos: indem sie die Schaulust des Betrachters aufs Beste bedient.


Service: Die Ausstellung "Zurück zur Figur - Malerei der Gegenwart" ist in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München bis zum 13. August 2006 zu sehen.
Danach wird sie im Museum Franz Gertsch im Schweizerischen Burgdorf gezeigt.