Zurück in die Heimat

Von Tobias Mayer · 24.07.2008
Das Phänomen "ethnische Säuberung" - man denke an den Bosnien-Krieg und das Massaker von Srebrenica - existiert verstärkt seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor 100 Jahren nannte man das allerdings noch "Bevölkerungsaustausch", und es wurde ganz ordentlich an den Schreibtischen der Herrschenden geregelt. Der Vertrag von Lausanne zum Beispiel enthält einen Passus über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. Abgeschlossen wurde dieser Vertrag am 24. Juli 1923, heute vor 85 Jahren.
"Meine Großeltern litten besonders darunter, dass sie nichts mitnehmen durften. Sie erzählten mir, dass sie ihr Gold in einem großen Stück Käse versteckten, denn eigentlich hatten die Griechen verboten, Wertsachen außer Landes mitzunehmen. Nach einer Odyssee durch verschiedene Flüchtlingslager kamen sie schließlich in Istanbul an. Als sie das kleine Haus sahen, das sie beziehen sollten, rief meine Urgroßmutter unter Tränen aus: 'Es ist so groß wie unsere Scheune daheim."

Die Großeltern der türkischen Schriftstellerin Feride Cicekoglu stammten - wie der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk auch - aus der griechischen Hafenstadt Thessaloniki. Im Laufe des Jahres 1923 teilte etwa eine halbe Million Türken das Schicksal von Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat. Im Gegenzug mussten etwa eineinhalb Millionen Griechen die türkische Ägäis und Anatolien in Richtung Griechenland verlassen. Grundlage einer der größten "ethnischen Säuberungen" des 20. Jahrhunderts war die so genannte "Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei", die Bestandteil des "Vertrags von Lausanne" wurde. Mit der Unterzeichnung dieses Vertrags am 24. Juli 1923 wurde die Türkei ein souveräner Staat.

Fünf Jahre zuvor drohte noch die völlige Zerschlagung der staatlichen Einheit in Kleinasien. Das Osmanische Reich war als Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg endgültig untergegangen. Die Briten kontrollierten Istanbul, die Franzosen große Gebiete im Süden der Türkei, die Griechen den Westen. Die Alliierten planten die vollständige Demobilisierung der osmanischen Armee. Dies war eine Demütigung für die türkischen Nationalisten, die im Sommer 1919 unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk von Anatolien aus den Widerstand organisierten.

"Innerhalb der nationalen Grenzen ist das Vaterland unteilbar."

Atatürk forderte die territoriale Einheit aller Gebiete Anatoliens und Thrakiens. Für die Alliierten allerdings war der Sultan, dem mehr am Fortbestand seiner Dynastie als am Erhalt des Osmanischen Reiches lag, weiterhin der legitime Repräsentant der Türken. Seine Delegierten unterzeichneten 1920 den Friedensvertrag von Sèvres. Die Türkei sollte fast vollständig unter den Siegermächten aufgeteilt werden, im Osten ein groß-armenischer Staat entstehen und die Kurden im Südosten Autonomie erlangen. Doch dieser Vertrag kam nie zur Ausführung; die Unabhängigkeitsbewegung um Atatürk lehnte ihn brüsk ab.

"Der Vertrag von Sèvres, der darauf gerichtet ist, unsere politische, juristische, wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit zu zerstören und uns somit unser Lebensrecht abzuerkennen, ist für uns nicht existent."

"Atatürk ... hat diesen Kampf als Befreiungskampf proklamiert, um ein Volk zu retten, auf dessen Leben man es abgesehen hatte. Dieser Krieg, der anatolische Feldzug, hat noch einmal vier Jahre gedauert, hat den Weltkrieg für uns um weitere vier Jahre verlängert und endete mit einem echten Triumph."

... erinnerte sich Ismet Inönü, Weggefährte Atatürks, Ministerpräsident und später Staatspräsident der Türkei, kurz vor seinem Tod. Im Sommer 1921 gewannen die Nationalisten die entscheidenden Schlachten. Die griechische Armee musste fluchtartig die ägäische Küste verlassen. Im November 1922 setzte Mustafa Kemal den Sultan ab. Und bald darauf vereinbarten Griechenland und die Türkei den umfangreichen Bevölkerungsaustausch zwischen beiden Staaten. 3000 Jahre hellenischer Kultur in Kleinasien gingen im Flüchtlingschaos zu Ende. Im Friedensvertrag von Lausanne mussten die Alliierten am 24. Juli 1923 die neuen Realitäten in Anatolien anerkennen. Die Türkei erhielt die volle Souveränität als national definierter Staat. Atatürk verspürte Genugtuung.

"Dieser Vertrag ist ein Dokument über das Misslingen eines großen Anschlags, den man seit Jahrhunderten gegen die türkische Nation vorbereitet hatte und den man glaubte, mit dem Vertrag von Sèvres vollendet zu haben."

Von armenischer oder kurdischer Eigenständigkeit im Osten des Landes war in Lausanne keine Rede mehr. Die Grenzen der neuen Türkei waren gezogen. Im Oktober 1923 rief Mustafa Kemal Atatürk die Türkische Republik aus.

"Der Krieg ist vorbei - es lebe der Krieg!"

Es galt nun noch die Schlacht um eine moderne Türkei zu schlagen, eine Schlacht um tief greifende Reformen, die der Bevölkerung gewaltige Anstrengungen abverlangen sollten.