Zur Sprache gebracht

Der Wissenschaftler Thorsten Roelcke skizziert die Historie während der etwa 4.000 Jahre, seitdem sich aus der riesigen indogermanischen Sprachfamilie eine germanische abgeleitet hat - und blättert auf, wie sich im Laufe der Zeit Laute verschieben.
Sprachforscher Thorsten Roelcke skizziert die Historie während der etwa 4.000 Jahre, seitdem sich aus der riesigen indogermanischen Sprachfamilie eine germanische abgeleitet hat. Er blättert auf, wie sich Laute verschieben, wie "barocke Konsonantenhäufungen" eingedampft werden und wie Endungen wegfallen.

Muss man wissen wollen, wie die Sprache, in der man lebt, liebt, denkt, träumt und arbeitet, sich durch die Jahrtausende entwickelt hat? Ist das bei Deutsch nicht ohnehin verlorene Liebesmüh', weil die einst strahlende Sprache der Dichter und Denker seit 1945 von Anglizismen und seit der digitalen "Revolution" von Neusprech und SMS-Kürzeln zerfressen ist oder mit der Rechtschreibreform von 1996/2006 ihrer Eigenheiten beraubt wurde? Liegt Deutsch nicht überhaupt (und zu Recht) auf dem Müllhaufen der Weltgeschichte, weil eine Generation Deutsche zwischen 1933 und 1945 auch Geist und Sprache vernichtet hat?

Drei Fragen, die der Freiburger Sprachforscher und -didaktiker Thorsten Roelcke mit seiner kompakt-knappen "Geschichte der deutschen Sprache" für jedermann lesbar beantwortet. Seine Antworten stecken in den Beschreibungen und Beispielen. Sprache ist das Medium der Verständigung jeder menschlichen Gesellschaft, mündlich wie schriftlich. Weder Sprache noch Gesellschaft sind je "rein", beide sind aus vielen Fäden gewirkte Mischformen in ständiger Bewegung. Und in dem Wissen, wie sich unsere Sprache genau ge- und ent- und wieder neu gemischt hat, stecken wiederum Antworten auf Fragen unserer heutigen "plurizentrischen und multikulturellen Gesellschaft".

Roelcke skizziert die Historie während der etwa 4.000 Jahre, seitdem sich aus der riesigen indogermanischen Sprachfamilie eine germanische abgeleitet hat. Im 8. Jahrhundert taucht der Begriff "deutsch" zum ersten Mal auf, zunächst nur auf die Sprache bezogen und in einer Vorform, in der noch zu erkennen ist, dass es schlicht um die Volkssprache geht: theodiska, zusammengesetzt aus þeudo (Volk) und der Endung iska (-isch). Für Land und Leute wird die Vokabel erst drei Jahrhunderte später benutzt. Da klingt sie auch schon anders: diutisk, und dient zur Abgrenzung etwa gegen frencisg (fränkisch/französisch). Hochpolitische Vorgänge.

Roelcke blättert auf, wie sich Laute verschieben, wie "barocke Konsonantenhäufungen" eingedampft werden, wie Endungen wegfallen, die ein Wort als Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ erkennbar machen, weshalb beugbare Artikel dazukommen müssen. Oder wie der Genitiv allmählich ausstirbt, "dem sein Tod" aber keineswegs der schlichte Dativ ist. All das ist einfach faszinierend zu lesen. Seit wann gibt es "Hochdeutsch" als verbindliche Aussprache - in einem Gebiet, das von Mundarten nur so wimmelt? Wie hängen Klang und Schrift zusammen, seit wann gibt es ein vereinheitlichtes Schriftdeutsch? Welche innerdeutsche Ethnie oder Klasse hat sich da durchgesetzt? "Überspitzt formuliert, eine niederdeutsche Aussprache der hochdeutschen Schriftsprache." Goethe hätte sein berühmtes: "Ach neige, du Schmerzenreiche..." Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr geschrieben: denn der Reim neische auf -reische haut nur hessisch gefärbt hin.

Geschätzte 100 Millionen Menschen in der Welt haben heute Deutsch als Mutter- oder Zweitsprache. 388 Millionen dagegen Spanisch. Die lingua franca der weltweiten Kommunikation ist Englisch, Muttersprache zwar nur für 340 Millionen, aber benutzt von bis zu einer Milliarde. 1,2 Milliarden chinesische Muttersprachler allerdings lehren, dass Masse und Macht nicht identisch sind. Insofern ist für Roelcke auch noch nicht ausgemacht, dass das Deutsche bald komplett aus dem Katalog der Weltsprachen verschwunden sein und allenfalls als "Orchideenfach" studiert wird.

Besprochen von Pieke Biermann

Thorsten Roelcke: Geschichte der deutschen Sprache
Verlag C.H.Beck, München 2009
128 Seiten, 7,90 Euro